Schlafender Tiger. Großdruck.
Satz für ihn.
Rodney hatte das Gefühl, ihm werde der Boden unter den Füßen weggezogen. „Woher kennst du seinen Namen? Du solltest ihn nie erfahren.“
„Agnes hat ihn mir gestern gesagt.“
„Aber, Agnes hatte nicht das Recht...“
„Oh, Rodney, versuch doch zu verstehen! Du kannst ihr keinen Vorwurf machen. Ich habe sie überrumpelt. Ich habe das Foto von George Dyer einfach auf den Tisch gelegt, und sie ist praktisch in Ohnmacht gefallen.“
„Selina, dir ist doch klar, daß dein Vater tot ist?“
„Aber, Rodney, begreifst du denn nicht? Er wurde nur vermißt. Er galt als verschollen. Es kann alles mögliche passiert sein.“
„Und warum ist er dann nach dem Krieg nicht zurückgekehrt?“
„Vielleicht weil er krank war. Vielleicht hat er sein Gedächtnis verloren. Vielleicht hatte er gehört, daß meine Mutter gestorben war.“
„Und was hat er während der ganzen Jahre gemacht?“
„Ich weiß es nicht. Aber seit sechs Jahren lebt er auf San Antonio.“ Ihr war klar, daß Rodney sie fragen würde, woher sie das wußte, und so fügte sie schnell hinzu: „Das steht alles in dem Buch.“ Er sollte auf keinen Fall erfahren, daß sie bei Mr. Rutland gewesen war.
„Hast du das Foto deines Vaters bei dir?“
„Nicht das auf dem Buch.“
„Das meinte ich auch nicht. Ich meinte das andere.“
Selina zögerte. „Ja, das habe ich.“
„Zeig es mir.“
„Du... wirst es mir wiedergeben?“
„Mein liebes Kind, wofür hältst du mich?“ Rodneys Stimme klang leicht gereizt.
Sofort schämte sie sich. Rodney hätte sich nie zu einem hinterhältigen Trick herabgelassen. Sie holte ihre Tasche, holte das wertvolle Foto heraus und reichte es Rodney. Er ging damit zum Fenster, weil es dort heller war, und Selina stellte sich neben ihn.
„Du wirst dich wahrscheinlich an das Foto auf dem Buch nicht mehr erinnern, aber es ist dieselbe Person, das schwöre ich dir. Alles ist gleich, das Grübchen am Kinn, die Augen... und die Form der Ohren.“
„Was hat Agnes gesagt?“
„Sie wollte sich nicht festlegen, aber ich bin sicher, daß sie ihn für meinen Vater hält.“
Rodney erwiderte darauf nichts. Während er mit gerunzelter Stirn das Gesicht auf dem Foto betrachtete, schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Was, wenn er Selina jetzt verlor? Als geradezu übertrieben ehrlicher Mensch hatte Rodney sich niemals vorgemacht, sie zu lieben, doch sie war, fast ohne daß er es bemerkt hatte, zu einem angenehmen Teil seines Lebens geworden. Ihm gefiel ihr Äußeres, das seidige, rehbraune Haar, die zarte Haut und die saphirblauen Augen, und auch wenn ihre Interessen vielleicht nicht ganz so anspruchsvoll waren wie seine eigenen, zeigte sie doch eine liebenswerte Bereitschaft zu lernen.
Und dann war da noch die Frage ihrer geschäftlichen Angelegenheiten. Seit dem Tod ihrer Großmutter war Selina ein recht wohlhabendes Mädchen, das nur allzu leicht einem skrupellosen Mitgiftjäger in die Hände fallen konnte. Im Augenblick verwalteten Rodney und Mr. Arthurstone in bestem Einvernehmen ihre Aktien und Wertpapiere. In sechs Monaten würde Selina einundzwanzig werden, und von da an würde sie jede finanzielle Entscheidung selbst treffen. Der Gedanke, die Kontrolle über all dieses Geld könnte seinen Händen entgleiten, erschreckte Rodney zutiefst. Er sah auf und begegnete Selinas Blick. Noch nie hatte er ein Mädchen mit so blauen Augen gesehen. Sie duftete leicht nach frischen Zitronen. Er erinnerte sich an Mrs. Bruces bissige Bemerkungen über Gerry Dawson. „Unfähig“ war das Wort, das sie oft gebraucht hatte. Weitere Attribute fielen ihm ein. Verantwortungslos. Unzuverlässig. Finanziell unsolide.
Er hielt das Foto an einer Ecke fest und schlug damit
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