Schlafender Tiger. Großdruck.
ihr Mittagessen verzichtet und schrecklich unter der daraus folgenden Müdigkeit und Magenverstimmung gelitten.
Die Wohnung in Queen's Gate war bereits verkauft; wenn Rodney und Selina nach ihrer Hochzeit in die neue Wohnung einzogen, würde Agnes mit ihnen kommen. Es war gar nicht einfach gewesen, sie dazu zu bewegen. Sicher würde Selina die alte Agnes nicht im Weg haben, sondern ihr neues Leben ganz von vorn beginnen wollen... Selina hatte versichert, nichts liege ihr ferner. Nun, aber Mr. Ackland... Für ihn wäre es doch, als hätte er seine Schwiegermutter in der Wohnung! Selina sprach mit Rodney, der Agnes vorläufig beruhigen konnte. Doch dann behauptete sie plötzlich, sie sei zu alt, um noch einmal umzuziehen, also zeigten sie ihr die neue Wohnung. Wie sie es vorausgesehen hatten, war Agnes entzückt von der Helligkeit und dem Komfort, der sonnendurchfluteten Einbauküche und dem kleinen Wohnzimmer, das ihr ganz allein gehören würde, mit Blick auf den Park und einem eigenen Fernseher.
Immerhin, sagte Agnes sich tapfer, würde sie mit ihnen gehen, um ihnen zu helfen. Sie würde arbeiten. Und bald würde sie zweifellos wieder eine Nanny sein, mit einem neuen Kinderzimmer, über das sie herrschen konnte, und einer neuen Generation von Babies, ein Gedanke, der von neuem all ihre verborgenen Mutterinstinkte weckte.
Jetzt stand Selina in der Tür, mit rosigen Wangen vom schnellen Laufen, und ihre blauen Augen glänzten wie Glas. Agnes runzelte die Stirn. „Du bist schon früh zurück. Ich dachte, du wolltest die Böden ausmessen gehen. Stimmt irgend etwas nicht, Liebes?“
Selina legte ihr Buch auf den geschrubbten Tisch zwischen ihnen. Sie schaute Agnes direkt in die Augen und fragte: „Hast du diesen Mann schon einmal gesehen?“
Agnes' Reaktion war mehr als befriedigend. Sie riß erschrocken den Mund auf, ließ den Teelöffel fallen und sank auf den blauen Stuhl. Selina erwartete halb, daß sie sich ans Herz fassen würde. Sie beugte sich über den Tisch. „Nun, Agnes?“
„Oh“, stieß Agnes hervor. „Oh, wie du mich erschreckt hast!“
Selina war unnachgiebig. „Du hast ihn schon einmal gesehen, nicht wahr?“
„Oh, Selina... Wo hast du... Woher wußtest du... Wann hast du...“ Sie war unfähig, eine Frage zu stellen oder einen Satz herauszubekommen. Selina zog einen zweiten Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber.
„Es ist mein Vater, nicht wahr?“ Agnes sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Ist das sein Name? George Dyer? War das der Name meines Vaters?“
Agnes riß sich zusammen. „Nein“, antwortete sie. „Nein, so hieß er nicht.“
Selina sah enttäuscht aus. „Wie hieß er dann?“
„Gerry ... Dawson.“
„Gerry Dawson. G. D. Dieselben Initialen. Dasselbe Gesicht. Es ist ein Pseudonym. Ganz klar, es ist ein Pseudonym.“
„Aber, Selina... Dein Vater wurde getötet.“
„Wann?“
„Gleich nach der Invasion Frankreichs durch die alliierten Truppen.“
„Woher weißt du, daß er getötet wurde? Wurde er vor Augenzeugen in die Luft gesprengt? Starb er in irgend jemandes Armen? Wissen wir mit Sicherheit, daß er tot ist?“
Agnes fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Er wurde vermißt. Galt als verschollen.“
„Dann wissen wir es also nicht mit Sicherheit“, sagte Selina, von erneuter Hoffnung erfüllt.
„Wir warteten drei Jahre, und dann wurde er für tot erklärt. Sie informierten deine Großmutter, weil Harriet... Nun, das weißt du. Sie starb bei deiner Geburt.“
„Hatte mein Vater keine Verwandten?“
„Jedenfalls keine, von denen wir wußten. Das war einer der Gründe, warum deine Großmutter gegen ihn war. Sie sagte, er käme aus keiner guten Familie. Harriet lernte ihn auf einer Party
Weitere Kostenlose Bücher