Schlafender Tiger. Großdruck.
kennen; sie war ihm nie offiziell vorgestellt worden. So etwas gefiel deiner Großmutter überhaupt nicht.“
„Du liebe Güte, Agnes, es war Krieg! Und das schon fünf Jahre! Hatte Großmutter das nicht bemerkt?“
„Nun, vielleicht, aber sie hatte ihre Vorstellungen und Prinzipien, an denen sie festhielt. Daran ist nichts auszusetzen.“
„Schon gut. Meine Mutter verliebte sich jedenfalls in diesen Mann.“
Agnes nickte. „Hoffnungslos.“
„Und sie heirateten.“
„Ohne Mrs. Bruces Zustimmung.“
„Und hat sie Harriet verziehen?“
„O ja, sie war nicht nachtragend. Und Harriet kam ja sowieso zurück, um hier zu leben. Siehst du, dein Vater wurde nach... nun, in jenen Tagen sagte man 'irgendwohin in England' geschickt. Doch in Wirklichkeit wurde er nach Frankreich abkommandiert, zwei Tage nach der Invasion durch die Alliierten. Bald darauf fiel er. Wir haben ihn nie wiedergesehen.“
„Also waren sie verheiratet...“
„Drei Wochen lang.“ Agnes seufzte. „Aber sie hatten die Flitterwochen, und sie waren eine Zeitlang zusammen.“
„Und meine Mutter war schwanger“, sagte Selina. Agnes schwieg schockiert. Sie war es immer noch nicht gewohnt, daß Selina solche Worte gebrauchte, geschweige denn, daß sie sich in diesen Dingen auskannte.
„Nun ja.“ Das Gesicht auf dem Buchumschlag weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie rückte das Buch gerade und betrachtete den seltsamen Glanz in den dunklen Augen. Braun waren sie gewesen. Gerry Dawson. War es wirklich Gerry Dawson? Er sah jedenfalls genauso aus. Oder zumindest so, wie er heute ausgesehen hätte, wenn er damals nicht gefallen wäre.
Langsam kehrten die Erinnerungen zurück, und nicht alle waren schlecht. Er hatte Harriet einen Glanz und eine Vitalität gegeben, die Agnes bei ihr nie vermutet hätte. Mit Agnes hatte er ein bißchen geflirtet und ihr eine Pfundnote zugesteckt, wenn niemand hinschaute. Sicherlich nichts, worauf Agnes stolz sein mußte, aber es hatte trotzdem ein bißchen Freude gemacht. Ein bißchen Freude, als das Leben ganz besonders freudlos war. Ein männlicher Wind, der durch den reinen Frauenhaushalt wehte. Nur Mrs. Bruce war gegen seinen Charme immun geblieben.
„Er ist ein Habenichts“, hatte sie erklärt. „Das sieht man sofort. Wer oder was ist er denn schon? Nimm die Uniform weg, und es bleibt ein gutaussehender Herumtreiber übrig. Ohne Verantwortungsbewußtsein. Ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Was für ein Leben kann er Harriet bieten?“
Natürlich war sie in gewisser Hinsicht eifersüchtig. Es gefiel ihr, das Leben anderer Leute zu bestimmen, ein strenges Auge darauf zu halten, wie sie sich benahmen und wie sie ihr Geld ausgaben. Sie hatte vorgehabt, selbst einen Mann für Harriet auszusuchen. Doch Gerry Dawson besaß bei all seinem Charme eine Persönlichkeit und Willensstärke, die der ihren ebenbürtig war, und er hatte die Schlacht gewonnen.
Später, nach seinem Tod, und nachdem auch Harriet, die nicht mehr hatte leben wollen, gestorben war, sagte Mrs. Bruce zu Agnes: „Ich werde den Namen des Babys von Dawson in Bruce umändern lassen. Ich habe bereits mit Mr. Arthurstone darüber gesprochen. Es scheint mir das Nächstliegende zu sein.“
Agnes war anderer Meinung. Doch sie hatte es noch nie gewagt, mit Mrs. Bruce zu streiten. „Ja, Madam“, hatte sie erwidert.
„Und, Agnes, es wäre mir lieb, wenn sie aufwüchse, ohne etwas von ihrem Vater zu erfahren. Es würde ihr nichts nützen, und es könnte sie sehr verunsichern. Ich verlasse mich auf dich, Agnes; du wirst mich sicher nicht enttäuschen.“ Das Baby auf ihrem Schoß, hatte sie Agnes über Selinas mit zartem Flaum bedeckten Kopf hinweg angesehen.
Nach einer kleinen
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