Schlafender Tiger. Großdruck.
leicht gegen seine linke Handfläche. Da er irgend jemanden für diese unangenehme Situation verantwortlich machen mußte, sagte er schließlich leicht verärgert: „Natürlich ist an alldem deine Großmutter schuld. Sie hätte dich nie über deinen Vater im unklaren lassen dürfen. Diese Geheimnistuerei, dieses Verschweigen seines Namens... ein lächerlicher Fehler.“
„Wieso?“ fragte Selina interessiert.
„Weil dich das geradezu besessen gemacht hat!“ Seine unerwartet heftige Reaktion verblüffte Selina. Sie starrte ihn mit offenem Mund an wie ein erstauntes Kind.
Rodney schimpfte unbarmherzig weiter. „Du bist besessen von Vätern, von Familien, vom Familienleben überhaupt. Die Tatsache, daß du dieses Foto vor allen versteckt hast, ist ein deutliches Symptom.“
„Du redest, als hätte ich die Masern.“
„Ich versuche dir begreiflich zu machen, daß du einen Komplex hast, was deinen verstorbenen Vater betrifft.“
„Vielleicht ist er gar nicht verstorben“, entgegnete Selina.
„Und falls ich wirklich einen Vaterkomplex habe, mußt du zugeben, daß es nicht meine Schuld ist. Was ist so schlimm daran, einen Komplex zu haben? Immerhin schielt man nicht oder hat ein Glasauge. Niemand sieht es einem an.“
„Selina, das ist überhaupt nicht komisch.“
„Ich finde es auch überhaupt nicht komisch.“
Rodney seufzte. Sie stritten sich. Das hatten sie noch nie getan, und dies war sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt, um damit zu beginnen. Also sagte er schnell: „Liebling, es tut mir leid“, und beugte sich vor, um sie auf den Mund zu küssen, doch sie wandte das Gesicht ab, so daß er nur ihre Wange traf. „Verstehst du nicht“, fuhr er fort, „ich denke dabei nur an dich. Ich möchte nicht, daß du irgendeinem fremden Mann bis ans Ende der Welt nachläufst, nur um dann feststellen zu müssen, daß du dich zum Narren gemacht hast.“
„Aber, angenommen, nur einmal angenommen, er ist wirklich mein Vater. Er lebt noch, und zwar auf San Antonio. Schreibt Bücher, segelt mit seiner kleinen Yacht herum und versteht sich wunderbar mit den Einheimischen. Dann würdest du doch wollen, daß ich ihn kennenlerne, nicht wahr? Du würdest doch selber gerne einen richtigen Schwiegervater haben wollen.“
Das war nun das letzte, was Rodney wollte. „Wir dürfen dabei nicht nur an uns denken“, sagte er sanft. „Wir müssen auch an ihn denken, George Dyer, ob er nun dein Vater ist oder nicht.“
„Was meinst du damit?“
„In all diesen Jahren hat er sich ein eigenes, angenehmes Leben aufgebaut. Ein Leben, das er sich selbst ausgesucht hat. Wenn er eine Familie mit all ihren Bindungen, wenn er Frau und Söhne gewollt hätte... und Töchter natürlich, dann hätte er sie inzwischen.“
„Du meinst, er will mich vielleicht gar nicht? Er will nicht, daß ich nach ihm suche?“
„Du denkst doch nicht ernsthaft daran, einen solchen Schritt zu unternehmen?“ fragte Rodney entsetzt.
„Es ist mir so wichtig. Wir könnten nach San Antonio fliegen.“
„Wir?“
„Ich möchte, daß du mitkommst. Bitte.“
„Das ist ganz und gar unmöglich. Außerdem muß ich für drei bis vier Tage nach Bournemouth, das habe ich dir bereits gesagt.“
„Kann Mrs. Westman nicht warten?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Ich möchte so gern, daß du mitkommst. Hilf mir, Rodney.“
Rodney mißverstand diese Bitte. Er dachte, dieses „Hilf mir“ wäre im praktischen Sinne gemeint. Hilf mir beim Kauf des Flugtickets, hilf mir, ins richtige Flugzeug zu steigen, hilf mir beim Zoll, ruf mir ein Taxi und einen Gepäckträger. Selina war noch nie in ihrem ganzen Leben allein verreist, und er war überzeugt, daß sie es auch jetzt niemals wagen würde.
Er versuchte es mit Charme, setzte sein freundlichstes Lächeln auf,
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