Schlafender Tiger. Großdruck.
nahm ihre Hand und sagte versöhnlich: „Ach, was soll die ganze Aufregung? Hab Geduld. Ich weiß, es muß aufregend für dich sein, dir plötzlich eine Begegnung mit deinem Vater auszumalen. Mir ist auch bewußt, daß es immer eine gewisse Leere in deinem Leben gab. Ich hatte allerdings gehofft, es würde mir gelingen, diese Leere zu füllen.“
Er klang so nobel. „Das ist es nicht, Rodney...“ erwiderte Selina.
„Aber, siehst du, wir wissen nicht das geringste über George Dyer. Sollten wir nicht erst einmal ein paar Nachforschungen anstellen, bevor wir irgendwelche Schritte unternehmen, die wir vielleicht hinterher bereuen?“
„Ich wurde geboren, nachdem er als vermißt gemeldet wurde. Er weiß nicht einmal, daß ich existiere.“
„Genau!“ Rodney wagte einen etwas energischeren Ton. „Du kennst doch das alte und sehr wahre Sprichwort: Schlafende Hunde soll man nicht wecken.“
„Ich denke nicht an ihn als einen schlafenden Hund. Ich denke nur daran, daß er vielleicht noch lebt und daß er der einzige Mensch ist, nach dem ich mich jemals gesehnt habe, mehr als nach irgend jemandem sonst in meinem ganzen Leben.“
Rodney wußte nicht, ob er beleidigt oder einfach nur böse sein sollte. „Du redest wie ein kleines Kind.“
„Es ist wie mit einer Münze. Die hat zwei Seiten, Kopf und Zahl. Ich habe auch zwei Seiten. Eine Bruce-Seite und eine Dawson-Seite. Selina Dawson. Das ist mein wirklicher Name. Das bin ich wirklich.“ Sie lächelte Rodney an, und er dachte beunruhigt, daß er dieses Lächeln noch nie an ihr gesehen hatte. „Liebst du Selina Dawson so, wie du Selina Bruce liebst?“ fragte sie. Er hielt immer noch das Foto ihres Vaters fest. Sie nahm es ihm aus der Hand, um es wieder in ihre Tasche zu stecken.
„Ja, natürlich“, 1erwiderte Rodney eine Zehntelsekunde zu spät.
Selina schloß ihre Handtasche und legte sie auf einen Stuhl. „Also dann“, sagte sie und strich ihren Rock glatt, als wollte sie ein Gedicht aufsagen, „sollten wir nicht langsam mit dem Ausmessen des Fußbodens beginnen?“
3
A uf dem Flughafen von Barcelona glänzten im ersten blassen Licht der Morgendämmerung tiefe Pfützen - Spuren des Unwetters, das die Maschine über den Pyrenäen kräftig gebeutelt hatte. Ein leichter Wind blies von den Bergen herab, die Flughafenbeamten rochen nach Knoblauch, und auf den Bänken und Sesseln in der Halle schliefen blasse, in Mäntel oder Decken gehüllte Menschen, übernächtigt von langen Stunden des Wartens. Es war eine schlimme Nacht gewesen. Die Flüge von Rom und Palma waren gestrichen worden, und die Flüge aus Madrid hatten Verspätung.
Selina, der von dem Flug immer noch etwas übel war, betrat die Halle durch die verglaste Schwingtür und fragte sich, was sie als nächstes tun sollte. Sie hatte zwar ein Ticket bis San Antonio gelöst, mußte sich aber noch eine Bordkarte besorgen. An einem Schalter wog ein müde aussehender Beamter Gepäckstücke. Als sie zu ihm trat, blickte er auf.
„Sprechen Sie Englisch?“ fragte sie ihn.
„ Si. “
„Ich habe ein Ticket nach San Antonio.“
Mit ausdrucksloser Miene streckte er die Hand aus, riß das entsprechende Blatt ab, stellte ihr eine Bordkarte aus und gab ihr das Ticket zurück.
„Vielen Dank. Wann startet das Flugzeug?“
„Halb acht.“
„Und mein Gepäck?“
„Ist durchgebucht bis San Antonio.“
„Und der Zoll?“
„Ist in San Antonio.“
„Verstehe. Haben Sie vielen Dank.“ Doch ihre Bemühungen, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, blieben erfolglos. Der Mann hatte offenbar eine harte Nacht hinter sich und war nicht in der Stimmung für Freundlichkeiten.
Sie wandte sich um und setzte sich auf eine Bank. Ihr tat alles weh vor Erschöpfung, doch sie war zu
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