Schlafender Tiger. Großdruck.
nervös, um müde zu sein. Das Flugzeug war um zwei Uhr morgens in London gestartet, und sie hatte die ganze Zeit dagesessen, in die Dunkelheit gestarrt und sich energisch ermahnt, immer nur an das Nächstliegende zu denken. Zuerst Barcelona. Dann San Antonio. Zoll und Paßkontrolle. Dann ein Taxi. Es war sicher nicht schwer, ein Taxi zu finden. Und dann Cala Fuerte. Cala Fuerte würde kein großer Ort sein. Wo wohnt dieser Engländer, George Dyer, würde sie fragen. Man würde sie problemlos zur Casa Barco führen, und dort würde sie ihn finden.
Das Unwetter hatte direkt über den Pyrenäen begonnen. Der Flugkapitän war vorgewarnt worden, und so hatte man sie alle geweckt, damit sie ihre Sicherheitsgurte schließen konnten. Das Flugzeug schlingerte und schwankte, gewann an Höhe und schlingerte erneut. Einige Passagiere mußten sich übergeben. Selina schloß die Augen und zwang sich, die schlimmste Übelkeit zu unterdrücken. Es gelang ihr mit Mühe und Not.
Auf dem Anflug nach Barcelona wurden sie von Blitzen getroffen. Sie sahen aus wie Fahnen, die von den Spitzen der Tragflächen wehten. Als sie durch die Wolken stießen, peitschte der Regen auf sie nieder, und bei der Landung, während das Flugzeug von Windböen durchgeschüttelt wurde, stand die Landebahn, auf der sich glänzende Lichter spiegelten, völlig unter Wasser.
Die Räder berührten kaum den Boden, da sprühten Wasserfontänen nach allen Seiten, und als das Flugzeug schließlich holpernd zum Stehen kam und die Motoren abgestellt wurden, war ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung zu hören.
Es kam Selina seltsam vor, daß niemand sie erwartete. Es hätte ein Fahrer da sein sollen, ein Chauffeur in Uniform, mit einem großen, warmen Wagen. Oder Agnes, die eine wollene Reisedecke bereithielt. Jemand, der sich um ihre Koffer kümmerte und die Reiseformalitäten für sie erledigte. Doch niemand war da. Dies war Spanien; Barcelona um sieben Uhr an einem Morgen im März, und niemand war da außer Selina.
Als die Zeiger der Uhr auf sieben gekrochen waren, ging Selina in die Bar und bestellte sich einen Kaffee. Sie zahlte mit den paar Peseten, ohne die der aufmerksame Bankbeamte in London sie nicht hatte gehen lassen wollen. Der Kaffee war nicht besonders gut, aber angenehm heiß, und während sie ihn trank, betrachtete sie sich in dem Spiegel hinter der Bar.
Sie trug ein braunes Jerseykostüm, einen beigefarbenen Mantel und ein seidenes Kopftuch, das ihr jetzt vom Hinterkopf rutschte. Reisekleidung, wie Mrs. Bruce das nannte. Sie hatte feste Vorstellungen, was Reisekleidung betraf. Jersey ist bequem und knittert nicht, und der Mantel muß zu allem passen. Schuhe müssen leicht sein, aber fest genug für lange Wege auf zugigen Flughäfen, die Handtasche hat groß und geräumig zu sein.
Selina hatte diese ausgezeichneten und oft wiederholten Ratschläge instinktiv befolgt, selbst in einem so dramatischen Augenblick. Nicht daß es etwas genützt hätte - sie sah trotzdem schrecklich aus und war vollkommen erschöpft. Sie hatte Angst vor dem Fliegen, und sich wie ein erfahrener Reisender zu kleiden, konnte einen nicht von der Überzeugung abbringen, daß man entweder bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen oder seinen Paß verlieren würde.
Das Flugzeug nach San Antonio kam Selina äußerst winzig vor. Es sah aus wie ein Spielzeug. O nein, dachte sie, während sie darauf zuging, der Wind ihr Benzinwolken ins Gesicht blies und das Wasser in den Pfützen ihr die Schuhe naß spritzte. Auch die wenigen anderen Passagiere bestiegen mit so bedrückten Mienen das Flugzeug, als ob sie Selinas Ängste teilten. Kaum war sie angeschnallt, erhielt Selina ein
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