Schlafender Tiger. Großdruck.
zu halten. Sie mußte verrückt sein. Sie war wahrscheinlich eine dieser wahnsinnigen Frauen, die herumrennen und behaupten, sie seien Prinzessin Eugenie. Nur hatte diese Person eine fixe Idee, die ihn betraf.
„Ja. Ich glaube, Sie sind mein Vater.“
Sie war nicht wahnsinnig. Sie war vollkommen arglos, und sie glaubte wirklich, was sie da sagte. Er mußte jetzt einen klaren Kopf behalten. „Wie kommen Sie darauf?“
„Ich habe ein kleines Foto von meinem Vater. Ich dachte, er wäre tot. Aber er sieht genauso aus wie Sie.“
„Pech für ihn.“
„O nein, ganz und gar nicht ...“
„Haben Sie das Foto hier?“
„Ja, Augenblick...“ Während sie sich bückte, um ihre Tasche aufzuheben, versuchte er verzweifelt, als ginge es um Leben und Tod, ihr Alter abzuschätzen. Er mußte herausfinden, ob auch nur die geringste Chance bestand, daß diese furchtbare Anschuldigung wahr sein könnte.
„Hier ist es. Ich trage es immer bei mir, seit ich es vor ungefähr fünf Jahren gefunden habe. Und dann, als ich das Bild auf Ihrem Buch sah...“ Sie hielt ihm das Foto hin.
Er nahm es, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Wie alt sind Sie?“
„Zwanzig.“
Vor Erleichterung wurde ihm ganz schwindlig. Schnell blickte er auf das Foto, das Selina ihm gegeben hatte. Er sagte kein Wort. Und dann, genau wie Rodney, als Selina ihm das Bild gezeigt hatte, ging George Dyer damit ans Licht. Nach einer Weile fragte er: „Wie hieß er?“
Selina schluckte. „Gerry Dawson. Aber es sind dieselben Initialen.“
„Könnten Sie mir etwas über ihn erzählen?“
„Nicht sehr viel. Sehen Sie, man hat mir immer gesagt, er wäre gefallen, als ich noch nicht geboren war. Meine Mutter hieß Harriet Bruce, sie starb kurz nach meiner Geburt, deshalb zog meine Großmutter mich auf, und daher heiße ich auch Selina Bruce.“
„Ihre Großmutter. Die Mutter Ihrer Mutter.“
„Ja.“
„Und Sie fanden dieses Foto...?“
„Vor fünf Jahren. In einem Buch meiner Mutter. Und dann... bekam ich Fiesta in Cala Fuerte in die Hände und
sah Ihr Bild auf dem Umschlag.“
George Dyer erwiderte darauf nichts. Er trat von der offenen Tür zurück und gab Selina das Foto. Dann zündete er sich eine Zigarette an, und nachdem er das Streichholz ausgemacht und genau in die Mitte des Aschenbechers gelegt hatte, sagte er: „Sie behaupten, man hätte Ihnen erzählt, Ihr Vater wäre gefallen. Was meinen Sie damit?“
„Man hat es mir wirklich erzählt. Aber ich habe immer gewußt, daß meine Großmutter ihn nicht ausstehen konnte. Sie hat nie gewollt, daß meine Mutter ihn heiratet. Und als ich das Foto sah, dachte ich, vielleicht war alles ein Irrtum. Vielleicht ist er gar nicht gestorben. Vielleicht war er nur verwundet oder so, oder er hat sein Gedächtnis verloren. So was ist vorgekommen, wissen Sie.“
„Aber nicht bei Ihrem Vater. Ihr Vater ist tot.“
„Aber Sie...“
„Sie sind zwanzig. Ich bin siebenunddreißig. Ich sehe wahrscheinlich sehr viel älter aus, aber ich bin tatsächlich erst siebenunddreißig. Ich war nicht einmal im Krieg - jedenfalls nicht in dem, in dem Ihr Vater war.“
„Aber die Fotos...“
„Ich habe so eine Vermutung, daß Gerry Dawson ein Großcousin von mir war. Die Tatsache, daß wir uns so ähnlich sehen, ist eine Laune der Natur. Ehrlich gesagt glaube ich nicht einmal, daß wir uns so ähnlich waren. Das Foto Ihres Vaters und das Foto auf dem Umschlag meines Buches liegen Jahre auseinander. Und selbst in meiner besten Zeit war ich nie so attraktiv wie er.“
Selina starrte ihn an. Sie hatte noch nie einen derart braungebrannten Mann gesehen. Anscheinend fehlten ein paar Knöpfe an seinem Hemd, denn es war vorne ganz offen, so daß man das dunkle Haar auf seiner Brust sehen konnte. Die Ärmel waren lässig bis zu den Ellbogen
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