Schlafender Tiger. Großdruck.
über die Lippen, holte tief Luft und sagte: „Suchen Sie vielleicht Ihre Katze?“
George Dyer blieb abrupt stehen. Er blickte hoch und entdeckte oben auf der Leiter ein Mädchen mit langen, bloßen Beinen, ohne Schuhe. Pearl lag wie ein riesiges weißes Plüschkissen auf dem Schoß des Mädchens.
Er runzelte die Stirn, während er versuchte sich zu erinnern. „Waren Sie die ganze Zeit da oben?“
„Ja.“
„Ich hab Sie gar nicht gesehen.“
„Nein, ich weiß.“
Er fand ihre Stimme sehr angenehm. „Heißt Ihre Katze Pearl?“ fragte sie. „Ja, ich wollte sie gerade füttern.“
„Sie sitzt schon den ganzen Nachmittag auf meinem Schoß.“
„Den ganzen Nach... Wie lange sind Sie denn schon hier?“
„Seit halb zwei.“
„Seit halb zwei?“ Er blickte auf seine Uhr. „Aber es ist schon nach fünf.“
„Ich weiß.“
Pearl unterbrach die Unterhaltung, indem sie sich streckte, sich mit einem klagenden Miauen vom Schoß des Mädchens erhob und die Leiter hinuntersprang. Laut schnurrend strich sie um Georges Beine.
Doch der ignorierte sie ausnahmsweise. „Sind Sie aus irgendeinem besonderen Grund hier?“ fragte er.
„O ja, ich bin gekommen, weil ich Sie sehen wollte.“
„Nun, in diesem Fall wäre es vielleicht keine schlechte Idee, wenn Sie von der Leiter heruntersteigen würden.“
Das Mädchen stand, offensichtlich steif geworden vom langen Sitzen, auf und stieg vorsichtig die Leiter hinunter, wobei es sich das lange Haar aus dem Gesicht strich. Im Vergleich zu Frances Dongen und all den anderen braungebrannten jungen Frauen auf San Antonio war sie sehr blaß, mit glattem rehbraunem Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte, und einem Pony. Ihre blauen Augen wirkten müde. Sie war hübsch, aber viel zu jung, um attraktiv zu sein.
„Wir kennen uns nicht, oder?“ fragte er.
„Nein. Nein, wir kennen uns nicht. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, daß ich einfach so in Ihr Haus eingedrungen bin.“
„Überhaupt nicht.“
„Die Tür war nicht verriegelt.“
„Sie hat keinen Riegel.“
Selina lächelte, weil sie dachte, er mache einen Scherz, doch offensichtlich hatte sie sich geirrt, also hörte sie auf zu lächeln und versuchte darüber nachzudenken, was sie als nächstes sagen sollte. In ihrem Unterbewußtsein hatte sie erwartet, daß er sie erkennen würde, daß er sagen würde „An wen erinnern Sie mich nur?“ oder „Aber natürlich, ich habe Sie schon einmal gesehen, irgendwann, irgendwo“. Doch er sagte nichts dergleichen, und sein Aussehen brachte sie zusehends aus der Fassung. Da war keinerlei Ähnlichkeit mit dem sauberen jungen Offizier mit den strahlenden Augen, der ihr Vater gewesen war. Sie hatte zwar erwartet, daß er ziemlich braungebrannt sein würde, aber sie hatte ganz und gar nicht damit gerechnet, daß sein Gesicht so faltig, seine dunklen Augen so rotgeädert waren. Die Tatsache, daß er dringend eine Rasur nötig hatte, trug noch zu seiner wenig vertrauenerweckenden Wirkung bei, ganz besonders, da die klare Linie seiner Wangenknochen und das Grübchen an seinem Kinn unter dunklen Stoppeln verborgen waren. Außerdem schien er nicht im geringsten erfreut zu sein, sie zu sehen.
Sie schluckte. „Sie... fragen sich sicherlich, wieso ich hier bin.“
„Nun ja, das frage ich mich in der Tat, aber zweifellos werden Sie es mir irgendwann erzählen.“
„Ich bin hierhergeflogen, von London aus... heute morgen, gestern abend. Nein, heute morgen.“
Er hatte plötzlich einen schrecklichen Verdacht. „Hat Rutland Sie geschickt?“
„Wer? Oh, Mr. Rutland, der Verleger. Nein, das hat er nicht. Er sagte allerdings, er wünschte, Sie würden seine Briefe beantworten.“
„Der Teufel soll ihn holen.“ Ihm kam ein anderer Gedanke. „Sie kennen ihn?“
„O ja. Ich bin zu ihm
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