Schlafender Tiger. Großdruck.
aufgerollt. Sie spürte eine seltsame Neugier, was ihr Körper, den sie nicht mehr unter Kontrolle hatte, wohl als nächstes tun würde. Ihre Beine konnten nachgeben, ihre Augen sich mit Tränen füllen, vielleicht würde sie diesen Mann sogar schlagen, wie er so dastand und ihr sagte, daß er nicht ihr Vater war. Daß alles stimmte, was man ihr erzählt hatte, und daß Gerry Dawson tot war.
Er redete immer noch und versuchte offenbar, freundlich zu sein. „... tut mir leid, daß Sie diese weite Reise gemacht haben. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen ... Jeder von uns hätte diesen Fehler gemacht... immerhin...“
Sie hatte einen Kloß im Hals, der weh tat, und sein Gesicht begann vor ihren Augen zu verschwimmen, als versinke es in einem Teich. Nachdem ihr die ganze Zeit zu warm gewesen war, wurde ihr plötzlich eiskalt. Er schien aus weiter Ferne zu kommen, als er fragte: „Ist alles in Ordnung?“, und sie merkte voller Scham, daß sie weder in Ohnmacht fallen noch auf ihn einschlagen, sondern schlicht und einfach wie ein kleines Kind in Tränen ausbrechen würde.
6
S ie haben nicht zufällig ein Taschentuch dabei?“ fragte Selina. Das hatte er nicht, doch er holte einen großen Kleenex-Karton und drückte ihn ihr in die Hand. Sie zog ein Papiertuch heraus, putzte sich die Nase und sagte: „Ich glaube nicht, daß ich sie alle brauchen werde.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Weinen, meine ich.“
„Natürlich nicht.“
Sie zog ein weiteres Papiertuch heraus und putzte sich noch einmal die Nase. „Ich hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Und es war auf einmal so kalt.“
„Es ist kühler geworden. Die Sonne ist untergegangen. Es hat wieder eine Sturmwarnung gegeben. Kommen Sie, setzen Sie sich hin.“
Er nahm ihren Arm und führte sie zu der gewaltigen Couch. Da sie immer noch zitterte, legte er ihr die rotweiße Decke über die Knie. „Ich werde Ihnen einen Brandy bringen“, sagte er. Selina erwiderte, sie möge keinen Brandy, doch er ging nicht darauf ein. Sie beobachtete ihn, wie er hinter der Theke seiner kleinen Küche ein Glas und eine Flasche hervorholte und ihr einen Drink einschenkte.
Als er damit zu ihr zurückkam, sagte sie: „Ich muß unbedingt erst mal etwas essen.“
„Trinken Sie das trotzdem.“
Das Glas war klein und dick und der Brandy ohne Eis oder Wasser. Selina schüttelte sich. Als sie ausgetrunken hatte, nahm George das leere Glas und ging zum Kamin, wo er die Glut schürte und ein Stück Treibholz nachlegte. Die Asche wirbelte auf und senkte sich wieder, wobei sie das frische Stück Holz mit grauem Staub bedeckte. Während Selina noch zusah, glühte eine kleine rote Flamme auf.
„Sie brauchen nicht einmal einen Blasebalg. Es brennt bereits“, sagte sie.
„Man weiß hier, wie ein gutes Feuer gemacht wird. Was möchten Sie essen?“
„Ist mir egal.“
„Suppe? Brot und Butter? Kaltes Fleisch? Obst?“
„Haben Sie etwas Suppe da?“
„Eine Dose...“
„Ist Ihnen das auch nicht unangenehm?“
„Weniger unangenehm, als wenn Sie in Tränen aufgelöst hier sitzen.“
„Ich habe nicht mit Absicht geweint“, erwiderte Selina verletzt.
Als die Suppe auf dem Herd stand, kam George aus der Küche und setzte sich auf die Kaminsohle. „Wo wohnen Sie?“ fragte er, nahm sich eine Zigarette und zündete sie mit einem Stück Holz aus dem Kamin an.
„In London.“
„Mit Ihrer Großmutter?“
„Meine Großmutter lebt nicht mehr.“
„Sie wohnen doch nicht allein?“
„Nein. Da ist noch Agnes.“
„Wer ist Agnes?“
„Mein Kindermädchen“, erwiderte Selina und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. „Ich meine, sie war früher mein Kindermädchen.“ „Gibt es da sonst niemanden?“
„Doch. Da ist noch
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