Schlafender Tiger. Großdruck.
Rodney.“
„Wer ist Rodney?“
Selina blickte zu Boden. „Er ist mein... Anwalt.“
„Weiß irgend jemand, daß Sie hier sind?“
„Agnes weiß es.“
„Und der Anwalt?“
„Er ist auf Geschäftsreise.“
„Dann gibt es also niemanden, der sich um Sie Sorgen macht? Der sich fragt, wo Sie sind?“
„Nein.“
„Na so was.“
Die Suppe begann zu kochen. George Dyer ging zur Küche zurück, um einen Teller und einen Löffel zu holen.
„Ihr Haus gefällt mir“, sagte Selina.
„Tatsächlich?“
„Ja. Es hat eine angenehme Ausstrahlung, als wäre es ganz zufällig entstanden. Als hätte niemand es geplant.“
Sie dachte an die Wohnung in London, wo sie und Rodney nach ihrer Hochzeit leben würden. An die Zeit und die Überlegungen, die in die Teppiche, die Vorhänge, das richtige Licht und die Kissen investiert worden waren, in die Papierkörbe, die Küche, die Töpfe und Pfannen. „Ich glaube, so sollte ein Haus auch sein. Es sollte sich langsam entfalten. Wie die Menschen, die in ihm wohnen.“
George Dyer goß sich einen Whisky ein und erwiderte nichts.
„Ein paar Dinge müssen natürlich dasein“, fuhr sie fort, „ein Dach über dem Kopf und ein Kamin und... Ich nehme an, ein Ort, wo man schlafen kann.“ Er kam mit einem Teller voll Suppe in der einen und seinem Glas Whisky in der anderen Hand aus der Küche zurück. Selina nahm ihm den Teller ab.
„Wie haben Sie das Bett auf die Galerie hochbekommen?“ fragte sie.
„In Einzelteilen. Wir haben es dort oben zusammengebaut.“
„Es ist sehr groß.“
„In Spanien wird es cama matrimonial genannt. Ehebett.“
Sie wurde verlegen. „Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Sie es da hochbekommen haben. Ich... Ich hätte nicht nachschauen dürfen, entschuldigen Sie, aber ich wollte alles sehen, bevor Sie hier sind.“
„Was werden Sie jetzt tun?“ fragte er.
Selina blickte auf ihre Suppe hinunter und rührte sie um. Es war eine Gemüsesuppe mit Buchstabennudeln darin. „Ich nehme an, ich fliege besser nach Hause“, antwortete sie.
„Ohne Ticket und ohne Geld?“
„Wenn ich mir etwas leihen könnte, würde Toni mich mit dem Taxi nach San Antonio zurückfahren. Und dann könnte ich den nächsten Flug nach London zurück nehmen.“
„Ich habe Ihnen. wirklich die Wahrheit gesagt, als ich meinte, ich hätte die sechshundert Peseten nicht. Einer der Gründe, warum ich gestern nach San Antonio gefahren bin, war, etwas Bargeld zu holen, es hat jedoch irgendeine Verzögerung bei der Bank in Barcelona gegeben, und im Augenblick bin ich ohne Barschaft.“
„Aber was mache ich mit dem Taxifahrer? Ich muß ihn bezahlen.“
„Vielleicht hilft uns Rodolfo vom Cala Fuerte-Hotel .“
„Ist das nicht ein bißchen viel verlangt?“
„Er ist daran gewöhnt.“
„Es sind ja nicht nur die sechshundert Peseten für das Taxi. Ich muß mir ja auch noch ein neues Ticket kaufen.“
„Ja, ich weiß.“
Die Suppe war immer noch zu heiß. Selina rührte sie weiter um: „Sie müssen mich für den allergrößten Trottel halten.“ Da er das nicht abstritt, fuhr sie fort: „Natürlich hätte ich schreiben müssen oder so, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, auf eine Antwort zu warten.“ Er gab immer noch keinen Kommentar ab, und sie hatte das Gefühl, sie müßte sich rechtfertigen. „Sie denken wahrscheinlich, daß man sich daran gewöhnen müßte, keinen Vater zu haben, besonders dann, wenn man ihn nicht einmal gekannt hat. Aber ich habe mich nie daran gewöhnt. Ich habe früher unentwegt daran gedacht. Rodney sagte, ich wäre geradezu besessen davon.“
„Man kann von schlimmeren Dingen besessen sein.“
„Ich habe Agnes das Foto auf Ihrem Buch gezeigt, und sie war vollkommen sprachlos, weil Sie genauso aussehen wie mein Vater. Deshalb bin ich
Weitere Kostenlose Bücher