Schlafender Tiger. Großdruck.
auch hergekommen, denn Agnes hat ihn sehr gut gekannt. Und wenn mir nicht die Brieftasche gestohlen worden wäre, hätte ich auch nicht einen ganz so albernen Eindruck gemacht. Bis dahin hatte alles gut geklappt. Ich hatte die richtigen Anschlußflüge gefunden, und es war nicht meine Schuld, daß mein Gepäck nach Madrid geschickt wurde.“
„Sind Sie denn noch nie vorher allein verreist?“ fragte er ungläubig.
„O doch, oft. Aber nur mit dem Zug zur Schule und so.“ Irgend etwas an seinem Gesichtsausdruck weckte den Wunsch in ihr, völlig ehrlich zu sein. „Und dann war immer jemand da, um mich abzuholen ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Sie wissen schon.“
„Nein, ich weiß nicht, aber ich glaube Ihnen.“
Sie begann die Suppe zu essen. „Wenn mein Vater wirklich Ihr Großcousin war, müssen Sie verwandt sein.“
„Großcousin zweiten Grades.“
„Das klingt schrecklich entfernt, nicht wahr? Und ziemlich aristokratisch. Haben Sie meinen Vater gekannt?“
„Nein, ich habe ihn nicht gekannt.“ Er runzelte die Stirn. „Wie war noch mal Ihr Vorname?“
„Selina.
„Selina. Nun, wenn ich jemals einen Beweis brauchte, daß Sie nicht meine Tochter sind, hier ist er.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich hätte keinem Mädchen einen solchen Namen zugemutet.“
„Wie würden Sie sie denn nennen?“
„Ein Mann stellt sich selten vor, Töchter zu haben. Er denkt nur an einen Sohn. George Dyer junior, vielleicht.“ Er hob sein Glas, als wollte er seinem fiktiven Sohn zuprosten, und trank den Whisky aus. „Kommen Sie, essen Sie Ihre Suppe auf, damit wir Ihren Taxifahrer suchen können.“
Während er den Suppenteller und die Gläser in die Spüle stellte, wusch Selina sich Gesicht und Hände in dem kleinen Waschbecken im Badezimmer, kämmte sich und zog Schuhe und Strümpfe an. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, war er wieder draußen auf der Terrasse, die Mütze auf dem Hinterkopf, und beobachtete den Hafen durch sein Fernglas.
Selina stellte sich neben ihn. „Welches ist Ihr Boot?“
„Das da.“
„Wie heißt es?“
„Eclipse.“
„Es sieht zu groß aus, um von einer einzigen Person gesegelt zu werden.“
„Ist es auch. Ich habe normalerweise eine Crew. Ich werde immer ein bißchen nervös, wenn das Wetter schlecht wird.“ Er lächelte. „Es kommt ein ziemlicher Seegang auf, und ich hab schon erlebt, daß die Eclipse sich losgerissen hat.“
„Aber dort ist sie doch in Sicherheit.“
„Die Felsen ragen sehr tief ins Wasser, man weiß nie, ob nicht doch etwas passiert.“
Sie blickte in den Himmel. Er war bewölkt und bleiern. „Gibt es wieder ein Unwetter?“
„Ja, der Wind hat gedreht. Der Wetterbericht war miserabel.“ Er ließ sein Fernglas sinken und sah sie an. „Haben Sie den Sturm letzte Nacht mitbekommen?“
„Er hat uns über die Pyrenäen gejagt. Wir konnten kaum in Barcelona landen.“
„Mir macht ein Sturm auf See nichts aus, aber ein Sturm in der Luft jagt mir Todesangst ein. Sind Sie soweit?“
„Ja.“
„Wir nehmen das Auto.“
Sie gingen ins Haus zurück, wo George das Fernglas wieder auf den Schreibtisch legte, während Selina ihre Tasche nahm und der Casa Barco ein stilles Lebewohl sagte. Sie hatte sich so genau vorgestellt, wie es wäre, hier zu sein, und nun verließ sie das Haus nach wenigen Stunden schon wieder. Für immer. Sie nahm ihren Mantel.
„Wofür zum Teufel brauchen Sie das?“
„Das ist mein Mantel. Es ist kalt in London.“
„Hatte ich ganz vergessen. Kommen Sie, geben Sie ihn mir.“ Er warf ihn sich über die Schulter. „Ein Gutes hat es jedenfalls, daß Ihr Koffer verschwunden ist“, sagte er. „So reisen Sie zumindest mit leichtem Gepäck.“
Sie verließen das Haus. Als Selina das Auto sah, glaubte sie zunächst an einen Scherz. Es sah aus wie ein Umzugswagen beim Karneval. Sie hätte
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