Schlafender Tiger. Großdruck.
aufzusetzen. Ich werde es allein nach San Antonio bringen, und Sie können hierbleiben und weiterschmollen.“
„Wie können Sie nur etwas so Schreckliches, Unfaires zu mir sagen...“
„Also gut, Junior, dann ist es eben schrecklich. Vielleicht sage ich schreckliche Sachen, weil ich ein schrecklicher Mensch bin. Nur gut, daß Sie es früh genug herausgefunden haben. Und jetzt kommen Sie her und setzen Sie Ihr Spatzenhirn in Gang, damit wir dieses Telegramm endlich schreiben können.“
„Ich habe kein Spatzenhirn“, protestierte Selina. „Und selbst wenn ich eines hätte, kennen Sie mich noch nicht lange genug, um das zu wissen. Ich sage doch nur, daß ich nicht den ganzen Tag in Unterwäsche herumlaufen kann...“
„Hören Sie, dies hier ist Cala Fuerte auf San Antonio, nicht das vornehme Queen's Gate. Meinetwegen können Sie auch splitternackt herumlaufen, aber ich würde es vorziehen, so bald wie möglich dieses Geld zu bekommen und Sie postwendend nach Kensington Gardens zu Ihrem Kindermädchen zurückzuschicken.“ Er beugte sich über den Tisch und nahm ein Blatt Papier und einen Stift in die Hand. Dann blickte er plötzlich auf und sah sie mit undurchdringlicher Miene an. „Wenn Sie älter und erfahrener wären, hätten Sie mir wahrscheinlich längst eine Ohrfeige verpasst.“
Selina sagte sich, daß sie es sich nie im Leben verzeihen würde, wenn sie jetzt in Tränen ausbrach. „Der Gedanke ist mir nie gekommen“, erwiderte sie mit einer Stimme, die nur ganz leicht schwankte.
„Gut. Passen Sie auf, daß es so bleibt.“ Er setzte sich hin und zog das Blatt Papier zu sich heran. „Also, der Name Ihrer Bank ist...“
8
N ach der Stille von Cala Fuerte, das abseits von jedem Trubel im kühlen Schatten der Bäume lag, wirkte San Antonio an diesem Nachmittag ganz besonders heiß, staubig und voll. In den Straßen herrschte ein unglaublicher Verkehr, ein Durcheinander von hupenden Autos, Motorrollern, Eselskarren und Fahrrädern. Auf den Straßen drängten sich derartig viele Menschen, daß George keinen Zentimeter vorangekommen wäre, wenn er nicht ununterbrochen die Hand auf der Hupe gehabt hätte.
Das Telegrafenamt befand sich am Hauptplatz mit der baumgesäumten Promenade und den Brunnen, direkt gegenüber von Georges Bank. George parkte an einem schattigen Platz, zündete sich eine Zigarette an und ging als erstes in die Bank. Vielleicht war sein Geld ja inzwischen doch aus Barcelona überwiesen worden. Dann würde er es sich gleich auszahlen lassen, Selinas Telegramm zerreißen und ihr auf der Stelle ein Rückflugticket nach London kaufen.
Aber das Geld war noch nicht da. Der Kassierer schlug George freundlich vor, sich hinzusetzen und vielleicht vier oder fünf Stunden zu warten, während er, der Kassierer, sich bemühte, nach Barcelona durchzukommen, um herauszufinden, was mit dem Geld passiert war. George fragte fasziniert, warum er vier oder fünf Stunden würde warten müssen, und erfuhr, daß das Telefon gestört und noch nicht repariert sei.
Nachdem George nun schon sechs Jahre auf San Antonio lebte, wußte er immer noch nicht, ob er sich über den Zeitbegriff der Inselbewohner ärgern oder amüsieren sollte. Er bedankte sich bei dem Kassierer und verließ die Bank. Nachdem er den Platz überquert hatte, ging er die breite Treppe hinauf und betrat die imposante Marmorhalle des Telegrafenamtes.
Nachdem er das betreffende Formular ausgefüllt hatte, stellte er sich ans Ende einer Schlange, die sich nur sehr langsam vorwärtsbewegte. Als er endlich vor dem Schalter stand, war er mit seiner Geduld fast am Ende. Der Mann hinter dem Drahtgitter hatte eine Glatze und eine Warze auf der Nase und
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