Schlafender Tiger. Großdruck.
hier?“
„Ich war im Bett und hab geschlafen.“
„Jetzt schlafen Sie aber nicht mehr. Ziehen Sie sich etwas an und kommen Sie herunter.“
Einen Augenblick später kam sie barfuß die Stufen herunter, wobei sie den Gürtel eines lächerlichen weißen Seidenmorgen-mantels zuband, der zum Nachthemd paßte.
Er runzelte die Stirn. „Woher haben Sie das?“
„Mein Koffer ist angekommen. Aus Madrid.“ Sie lächelte, als müßte er sich darüber freuen.
„Also sind Sie wenigstens bis zum Flughafen gekommen?“
„Ja.“
„Und was ist diesmal passiert? Wurde der Flug gestrichen? Gab es keinen Platz mehr in der Maschine? Hatte Pepe eine Panne?“
„Nein, nichts dergleichen.“ Sie hatte die Augen so weit aufgerissen, daß das Blau ganz und gar von Weiß eingerahmt war. „Ich habe meinen Paß verloren.“
„Sie haben was?“
„Ja, es war äußerst seltsam. Bevor ich fuhr, haben Sie mich doch noch gefragt, ob ich meinen Paß hätte. Nun, da war er in meiner Handtasche, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich sie irgendwann geöffnet hätte, aber als ich am Flughafen war und mein Ticket kaufen wollte, war er nicht mehr da.“
Sie versuchte, von seinem Gesicht abzulesen, wie George die Neuigkeit aufnahm. Er lehnte sich mit unbeweglicher Miene gegen das Sofa.
„Verstehe. Und was taten Sie da?“
„Nun, ich erzählte es natürlich der Guardia Civil.“
„Und was sagte die Guardia Civil dazu?“
„Oh, sie waren sehr nett und verständnisvoll. Und dann dachte ich, ich komme lieber hierher zurück und warte, bis sie ihn gefunden haben.“
„Wer ist 'sie'?“
„Die Guardia Civil.“
Sie schwiegen und sahen einander an. Dann sagte George:„Selina.“
„Ja?“
„Wissen Sie, was die Guardia Civil mit Leuten macht, die ihren Paß verloren haben? Sie werfen sie ins Gefängnis. Sie sperren sie als politische Gefangene ein. Sie lassen sie in Zellen verrotten, bis sich der Paß wieder angefunden hat.“
„Nun, mit mir haben sie das nicht gemacht.“
„Sie lügen, nicht wahr? Wo haben Sie Ihren Paß hingetan?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn verloren.“
„Haben Sie ihn in Pepes Auto gelassen?“
„Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, er ist weg.“
„Hör mal, Junior, in Spanien spielt man mit Pässen keine Spielchen.“
„Ich spiele kein Spielchen.“
„Haben Sie Pepe von dem Paß erzählt?“
„Ich kann kein Spanisch, wie sollte ich ihm davon erzählen?“
„Sie haben sich einfach von ihm zurückbringen lassen?“ Sie sah etwas beunruhigt aus, sagte aber nur tapfer: „Ja.“
„Wann sind Sie wieder hier gewesen?“
„Ungefähr um elf.“
„Sind Sie aufgewacht, als wir hereinkamen?“ Sie nickte.
„Dann haben Sie also unser Gespräch mitbekommen?“
„Nun, ich habe versucht, meinen Kopf unter die Decke zu stecken, aber Mrs. Dongen hat eine äußerst durchdringende Stimme. Es tut mir leid, daß sie mich nicht mag.“ Dazu gab es nichts zu sagen, und sie fuhr in einem Plauderton fort, der ihrer Großmutter alle Ehre gemacht hätte: „Werden Sie sie heiraten?“
„Wissen Sie was? Sie machen mich krank.“
„Ist sie schon verheiratet?“
„Nicht mehr.“
„Was ist mit ihrem Mann passiert?“
„Ich weiß es nicht... Woher sollte ich auch? Vielleicht ist er tot.“
„Hat sie ihn umgebracht?“
Er schien plötzlich keine Kontrolle mehr über seine Hände zu haben. Sie zuckten förmlich vor Verlangen, Selina zu schütteln und diesen selbstgefälligen Ausdruck aus ihrem Gesicht zu schlagen. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten, doch Selina schien von dem Aufruhr, der in seinem Innern tobte, nichts zu ahnen.
„Ich nehme an, es war ziemlich ärgerlich für Sie, mich hier vorzufinden, aber sie wollte ja nicht bleiben, um sich die Sache erklären zu lassen.
Weitere Kostenlose Bücher