Schlafender Tiger. Großdruck.
Sie hat nur die arme Pearl getreten... Es wäre viel fairer gewesen, statt dessen mich zu treten.“ Sie sah George direkt in die Augen. Ihre Unverfrorenheit war einfach nicht zu fassen. „Sie muß Sie sehr gut kennen. Um so mit Ihnen zu reden, meine ich. So wie heute abend. Sie wollte, daß Sie mit ihr schlafen.“
„Sie wollen unbedingt Ärger kriegen, Selina.“
„Außerdem scheint sie zu glauben, daß Sie nie wieder ein Buch schreiben werden.“
„Da mag sie nicht ganz unrecht haben.“
„Wollen Sie es denn nicht wenigstens versuchen?“
„Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten“, sagte George langsam und drohend, doch selbst das schreckte sie nicht ab.
„Mir scheint, Sie haben Angst zu versagen, bevor Sie auch nur angefangen haben. Mrs. Dongen hatte recht, Sie sind aus demselben Holz geschnitzt wie diese trägen Exil-Engländer“, fuhr Selina fort, wobei sie Frances' schleppenden Tonfall überraschend gekonnt imitierte, „die dem Nichtstun so elegant frönen. Vermutlich wäre es ein Jammer, dieses Image zu zerstören. Und außerdem, was macht es schon? Sie brauchen nicht zu schreiben. Es ist ja nicht Ihr Lebensunterhalt. Und was Mr. Rutland betrifft, was ist schon dabei, ein Versprechen nicht einzuhalten? Es ist vollkommen gleichgültig. Sie können ihm gegenüber Ihr Wort genauso brechen, wie Sie es diesem Mädchen gegenüber getan haben, daß Sie heiraten wollten.“
Bevor er nachdenken oder sich auch nur beherrschen konnte, hatte George seine Hand aus der Hosentasche genommen und Selina eine Ohrfeige gegeben. Es klang, als sei eine Papiertüte explodiert. Das Schweigen, das darauf folgte, legte sich bleiern über den Raum. Selina starrte George ungläubig, doch erstaunlicherweise überhaupt nicht vorwurfsvoll an, während er sich die schmerzende Handfläche rieb. Als er sich eine Zigarette ansteckte, stellte er erschrocken fest, daß seine Hände zitterten.
Schließlich drehte er sich wieder zu Selina um und sah zu seinem Entsetzen, daß sie verzweifelt mit den Tränen kämpfte. Der Gedanke an Weinkrämpfe, an die anschließenden Vorwürfe und Entschuldigungen war mehr, als er ertragen konnte. Außerdem war es zu spät für Entschuldigungen. „Nun verschwinden Sie schon“, knurrte er. Als sie die Treppen hinauflief, wobei sich die weiße Seide des Morgenmantels um ihre bloßen Beine bauschte, rief er hinter ihr her: „Aber machen Sie die Tür gefälligst leise zu !“ Doch der Witz war schal und ging ins Leere, wie er es verdiente.
11
E s war schon spät, als er aufwachte. Er erkannte es am Winkel der Sonnenstrahlen und an den leisen Geräuschen, die ihm sagten, daß Juanita die Terrasse fegte. Instinktiv wappnete er sich gegen den Kater, der ihn an diesem Morgen mit Sicherheit nicht verschonen würde, und griff nach seiner Uhr. Es war halb elf. So lange hatte er seit Jahren nicht mehr geschlafen.
Vorsichtig bewegte er den Kopf von einer Seite zur anderen und wartete auf das erste Anzeichen seiner wohlverdienten Qualen. Nichts geschah. Mutiger geworden, rollte er mit den Augen, und der Schmerz blieb aus. Er schlug die rot-weiße Decke zur Seite und setzte sich vorsichtig auf. Es war ein Wunder. Er fühlte sich fast normal, eigentlich sogar besser, wach und voller Energie.
Er hob seine Sachen auf und ging ins Bad, um zu duschen. Beim Rasieren fiel ihm die Melodie der letzten Nacht wieder ein, aber dieses Mal mit dem Text, und ihm wurde, wenn auch zu spät, klar, warum Frances so wütend gewesen war, als er sie dauernd vor sich hinpfiff.
I've grown accustomed to her face
She almost makes the day begin.
Nun, fragte er mit einem einfältigen Grinsen sein Spiegelbild, wie sentimental willst du eigentlich noch
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