Schlafender Tiger. Großdruck.
„Vermutlich hätte ich Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten müssen.“
„Die Hand meiner Tochter?“
„Ja. Ein bißchen spät natürlich, da wir bereits verlobt sind. Wir werden nächsten Monat heiraten.“
„Verzeihen Sie bitte?“ fragte George. Die Frage war ein deutliches Zeichen seiner Entgeisterung, denn er hatte diese höfliche Formulierung seit den Diners und Jagdbällen in Bradderford nicht mehr verwendet und gedacht, er hätte sie längst vergessen. Doch hier war sie wieder, durch den Schock aus den Tiefen seines Unterbewußtseins herausgeschleudert.
„Wir sind bereits verlobt. Das wußten Sie doch sicher?“
„Nein, das wußte ich nicht.“
„Wollen Sie damit sagen, Selina hat es Ihnen nicht erzählt? Sie ist wirklich ein außergewöhnliches Mädchen.“
„Warum zum Teufel sollte sie mir das erzählen? Ob sie verlobt ist oder nicht, hat mit mir nichts zu tun.“
„Nein, aber man würde doch denken, daß es ihr wichtig ist. Das erste, worüber sie reden würde.“ Eingebildeter Lackaffe, dachte George. „Aber das tut nichts zur Sache. Nun, da Sie im Bilde sind, ist Ihnen sicher auch klar, daß ich sie mit nach London zurücknehmen sollte, und zwar so schnell wie möglich.“
„Ja, natürlich.“
Rodney ging an ihm vorbei und trat auf die Terrasse hinaus. „Was für ein phantastischer Ausblick! Sagten Sie, Selina wäre schwimmen? Ich kann sie gar nicht sehen.“
George stellte sich neben ihn. „Nein, sie ist... sie ist draußen bei der Yacht. Ich werde sie holen...“ Doch dann fiel ihm ein, daß er sie nicht holen konnte, da sie das Dinghi genommen hatte. Er mußte sich das Boot von Rafael, Tomeus Cousin, ausleihen. „Hören Sie... Können Sie hier kurz warten? Setzen Sie sich. Machen Sie es sich gemütlich. Es dauert nicht lange.“
„Soll ich Sie nicht begleiten?“ Rodneys Frage klang nicht gerade begeistert, und George erwiderte: „Nein, das ist schon in Ordnung. Das Boot ist voller Fischschuppen, Sie würden sich nur Ihren Anzug ruinieren.“
„Nun, wenn Sie wirklich...“ Und vor Georges Augen zog Rodney einen Rohrstuhl in die Sonne und ließ sich würdevoll darauf nieder, das typische Bild des wohlerzogenen Briten im Ausland.
Fluchend zog George das Boot von Tomeus Cousin Rafael die Slipanlage hinunter ins Wasser. Es war lang, schwer und unhandlich. Außerdem gab es nur einen Riemen, deshalb mußte er wriggen, eine Technik, die er keineswegs vollendet beherrschte, was um so unangenehmer war, als Rodney Ackland mit seinem glatten, langweiligen Gesicht, seiner glatten, langweiligen Stimme und seinem völlig unzerknitterten dunkelgrauen Anzug ihn von der Terrasse der Casa Barco aus beobachtete. Er ruderte schwitzend und fluchend zur Eclipse, doch als er nach Selina rief, erhielt er keine Antwort.
Mit einiger Mühe manövrierte er das schwerfällige Boot um die Heckvertäuung der Eclipse herum. Er entdeckte Selina sofort. Sie thronte wie eine Meerjungfrau auf einem Felsen an der entferntliegenden Küste. Offenbar war sie vom Wasser aus die Stufen zu einer der kleinen kitschigen Villen in den Pinienhainen hinaufgeklettert. Sie saß da, die Arme um die Knie geschlungen, das nasse Haar an ihren Kopf geschmiegt wie das Fell einer Robbe. Rafaels Boot glitt an die Backbordseite der Eclipse. George legte den Riemen ein, formte die Hände zu einem Trichter und rief: „Selina!“ Es klang wie ein wütender Schrei, und sie sah sofort auf. „Kommen Sie her, ich muß mit Ihnen reden.“
Sie zögerte nur eine Sekunde, dann stand sie auf und ging die weißen Stufen hinunter, ließ sich ins Wasser gleiten und schwamm ihm entgegen. Als sie das Boot erreichte, war der Bootsrand zu hoch für sie, also mußte er sie an den Armen hochziehen, naß und tropfend
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