Schlaflos in Schottland
beobachtet.“
Christina seufzte. „Ich weiß nicht. Mir scheint fast, dass wir womöglich die Dinge nur schlimmer machen. Vielleicht sollten wir es Papa überlassen, alles zu regeln. Es hat schon Momente gegeben, da dachte ich, dass er es vielleicht schön findet, mit ihr zusammen zu sein. Und er hat uns gebeten, freundlich zu ihr zu sein.“
„Ja, und das hat er uns zu Anfang nie gesagt, nicht wahr?“ Devon stellte sich direkt vor Christina auf. „Begreifst du, was da passiert? Ganz langsam zieht sie ihn auf ihre Seite und bringt ihn dazu, so zu denken wie sie und alles so zu machen, wie sie will. In ihrem Leben gibt es keine Kinder. Wir sind Störenfriede, die ihr im Weg sind.“
Christinas Herz wurde schwer. Sah Catriona sie tatsächlich so? Waren sie wirklich im Weg in dem Leben, das Papa und seine neue Frau miteinander führen wollten?
„Sie wird uns beiseiteschaffen“, fuhr Devon mit rauer Stimme fort. „Sie wird Papa einreden, dass wir schlimme Dinge tun, und wenn sie dann erst ihr eigenes Baby haben, wird es für uns keinen Platz mehr geben.“
Christinas Brust tat so weh, als würde jemand darauf herumtrampeln.
Aggie blinzelte verwirrt. „Du ... du glaubst wirklich, dass sie das will?“
„Ich bin mir ganz sicher.“
Plötzlich konnte Christina nicht mehr still sitzen. Sie sprang auf und drehte sich um, weil sie hinüber nach Gilmerton Manor schauen wollte. Einsam und prächtig thronte das Haus auf der Hügelkuppe wie ein Edelstein auf einem Ring. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fensterscheiben, und die hellen Steine der Mauern wirkten warm und einladend, ebenso wie der Efeu, der sich auf zwei Seiten an dem Gebäude emporrankte. Es war der einzige Ort, wo sie sich jemals zu Hause gefühlt hatte. Christinas Kehle wurde eng. Sie glaubte nicht, dass alles genauso kommen würde, wie Devon behauptete, aber eines hatte sich nicht sehr unwahrscheinlich angehört: Was würde geschehen, wenn Papa und seine neue Frau ein eigenes Kind bekamen? War dann noch Platz für sie und ihre Schwestern?
Sie biss sich heftig auf die Unterlippe, um ihre Tränen zurückzudrängen. Die Erinnerungen an einsame, übel riechende Zimmer kehrten zurück. Und daran, wie oft sie auf Mutter gewartet hatten, die manchmal nach Hause kam, genauso oft aber nicht. Einmal war sie zwei Wochen weggeblieben, und Christina hatte sich in ihrer Verzweiflung, angetrieben von den Hungerschreien ihrer Schwestern, auf die kalten Straßen von Paris hinausgewagt, um etwas zu essen zu stehlen. Sie hatte mehrere Stunden gebraucht, doch es war ihr gelungen, genug Nahrung für einige Tage aufzutreiben. Als sie zurückkam, war sie nass und schmutzig, und ein nach Schnaps stinkender Mann hatte versucht, sie in eine dunkle Gasse zu zerren, und zerriss dabei ihr Kleid. Ihr war klar, was er von ihr wollte, und ihr Entsetzen verlieh ihr die Kraft, sich loszureißen und so schnell sie konnte in das ungeheizte Dachzimmer zurückzulaufen.
Nun lebte sie in Gilmerton. Sie schaute hinüber zu dem Haus, bewunderte das Funkeln der Sprossenfenster in der Sonne, die strengen Linien der Steinmauern und die dicken, sicheren Türen. Das war ihr Zuhause, und sie würde alles tun, um es nicht zu verlieren. Sie konnte Gilmerton nicht verlassen, durfte Papa nicht verlieren.
Ein Schluchzer löste sich aus ihrer Kehle, und sofort legte Devon ihre dünnen Arme um sie und zog sie in eine enge Umarmung. Aggies kräftigerer Arm folgte. Lange standen sie so da, bis die finsteren Bilder der Erinnerung blasser wurden und Christina aufhörte zu zittern.
Als Devon sie losließ, fuhr sich Christina mit der Hand über die Augen und zwang sich zu einem Lächeln. „Wir sollten zurückreiten. Onkel Dougal merkt sonst, dass wir fort sind.“
Devon wischte sich mit dem Handrücken ebenfalls die Tränen fort. „Wir nehmen den Weg um den Loch. Dann sind wir schneller wieder dort.“
Der Weg schlängelte sich um einen kleinen Loch am Ende des Tals und teilte sich anschließend in zwei Pfade. Einer führte zu Onkel Dougals elegantem Haus, der andere zu MacLean Castle. Papa hatte gesagt, dieser Pfad sei früher der meistbenutzte Weg zur Burg gewesen. Das hatte sich geändert, weil Teile des Wegs fortgespült worden waren. Nun war der Pfad auf der dem Wasser zugewandten Seite so abschüssig, dass er weitgehend gemieden wurde. Papa hatte ihnen verboten, dort entlangzureiten, aber es war eine so bequeme Abkürzung, dass sie den Weg immer öfter benutzten, wenn sie allein
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