Schlaflos in Schottland
Christina wusste es nur zu genau. Jedes Mal, wenn Mutter verschwunden war, war sie .verliebt gewesen. „Du hast wohl recht.“ „Natürlich habe ich recht“, erklärte Devon energisch. „Wir werden einfach nur auf die richtige Gelegenheit warten müssen.“ „Hier ist sie.“ Aggie hielt eine schöne Saphir-Haarnadel hoch. Christina stand vom Bett auf und steckte die Nadel auf der Höhe von Aggies Schläfe fest. „Bitte sehr!“ Sie zwinkerte ihrer kleinen Schwester zu und flötete dann in lustig-affektiertem „Gesellschafts“-Tonfall: „Meine liebe Miss Agatha, Sie sehen einfach göttlich aus! Wie eine Prinzessin!“
Kichernd schlang Aggie die Arme um Christinas Hals. Christina erwiderte die Umarmung innig. Sie erinnerte sich nur zu gut an die feuchten Räume und das verschimmelte Brot früherer Tage. Wie oft hatten sie sich hinter verschlossenen Zimmertüren schmutziger Pensionen verstecken müssen, während draußen im Flur Leute schrien oder fluchten oder noch Schlimmeres taten! Sie erinnerte sich an die vielen Stunden, die sie damit verbracht hatte, darum zu beten, dass Mutter heimkehrte, während sie gleichzeitig gegen jede Vernunft gehofft hatte, dass sie, wenn sie nicht nüchtern war, einfach fortblieb.
Schuldgefühle machten Christina das Herz schwer. Sie war keine gute Tochter, wenn sie so über ihre eigene Mutter dachte, und das wusste sie auch. Ganz besonders, seit Papa ihnen erklärt hatte, dass Mutter krank war und deshalb so viele falsche Entscheidungen getroffen hatte. Eine gute Tochter liebte ihre Mutter, ganz gleich, was sie tat. Christina biss sich auf die Unterlippe und zog Aggie noch ein wenig dichter an sich heran.
Devon hatte recht; sie mussten Papas neue Frau loswerden. Es war ein Verrat der übelsten Sorte, wenn sie zuließen, dass jemand ihrem Vater etwas Böses zufügte, nachdem er ihnen ein sicheres Zuhause geschaffen hatte. Das war ein Geschenk, das sie ihm nie vergelten konnten.
„Au!“, quietschte Aggie. „Lass mich los; ich kriege keine Luft!“
Hastig ließ Christina ihre kleine Schwester los. „Tut mir leid. Ich habe an etwas anderes gedacht.“ Sie wandte sich an Devon. „Na gut. Womit fangen wir an?“
Der Butler hielt ein großes Silbertablett in der Hand, auf dem zwei Briefe lagen. „Die hier sind angekommen, während Sie fort waren, Madam.“
Nora Hurst starrte den Diener finster an. „Ach MacNair! Warum benutzt du das große Silbertablett für zwei winzige Briefe?“ Sie warf ihre Näharbeit in den Korb, der neben ihr stand. „Das ist furchtbar protzig!“
„Ja, Madam.“ MacNair verzog keine Miene, dennoch gelang es ihm deutlich zu machen, dass er vorhatte, sich auch weiterhin korrekt zu verhalten, ganz gleich, was seine Herrin dazu sagte.
Nora schaute zu dem Porträt, das über dem Kaminsims hing, und ihr Blick wurde sanfter. „John hat nichts von solchen Dummheiten gehalten, und ich werd’ auch nicht damit anfangen.“
Der Blick des Butlers ging in die gleiche Richtung, und für einen Augenblick waren ihre Mienen einander bemerkenswert ähnlich, weich und traurig. „Nein, Madam. Er hielt nichts von diesen Dingen.“ MacNair stellte das Tablett beiseite, nahm die Briefe in die Hand und hielt sie seiner Herrin hin. „Ist es so besser, Madam?“ Ihre Wangen legten sich in tiefe Falten, als sie ihn anlächelte. „Viel besser, du Spitzbube. Danke, MacNair.“ Mit vom Alter und von der Gicht gekrümmten Fingern nahm sie ihm die Briefe aus der Hand. „Oh, sie sind von Triona und Caitlyn! Zwei Briefe von meinen beiden Lieblingsenkelinnen an ein und demselben Tag -das ist ein gutes Zeichen!“
MacNair schaute ihr liebevoll zu, während sie den ersten Brief öffnete. Vor vierzig Jahren hatte Mr John Hurst, der reichste Mann im County, noch dazu verwandt mit der Hälfte aller Earls und Dukes in Schottland, die Bevölkerung des gesamten Landstrichs schockiert, indem er eine Bürgerliche heiratete. Mit ihren fünfundzwanzig Lenzen war diese Frau ganze zwanzig Jahre jünger als er. Sie besaß kein Vermögen, war keine Schönheit und verfügte nur über eine sehr geringe Bildung. Es ging sogar das Gerücht um, Mr Hurst habe die ersten sechs Monate seiner Ehe damit verbracht, der frischgebackenen Lady das Lesen und Schreiben beizubringen.
Bereits vor ihrer Hochzeit mit John Hurst war Nora Macdonald für zwei Dinge bekannt gewesen: für ihre Fähigkeiten als Heilerin und für die hypnotische Anziehungskraft, die sie auf das andere Geschlecht
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