Schlaflos in Schottland
ausübte.
Nora hatte etwas an sich, das die Männer lockte wie das Licht die Motten. Bevor sie ihren geliebten John ehelichte, war sie bereits dreimal verheiratet - und verwitwet. Das hatte zu einigem Gerede geführt, sie habe ihre Gatten vergiftet. Dabei waren zwei ihrer verstorbenen Männer bei Unfällen im Bergwerk zu Tode gekommen. Und der Dritte war von seinem Pferd abgeworfen worden und hatte sich vor den Augen eines großen Teils der Dorfbevölkerung das Genick gebrochen.
Jedenfalls hatte es allgemeines Missfallen erregt, als Mr Hurst seine Nora heiratete und mit sich auf den Hügel nahm, wo Hurst Hall stand, ein Schmuckkästchen von einem Haus. Arme und Reiche waren damals gleichermaßen verärgert, dass er eine Frau von niedrigstem Stand nahm, und seine Dienstboten waren entsetzt über die unstandesgemäße Vermählung.
Es war nun einmal so, dass Diener, deren Herren der obersten Gesellschaftsschicht angehören, oft versnobter und strenger auf die Einhaltung von sozialen Schranken achteten als die Herren selbst. Die Sitzordnung im Speisezimmer der Dienerschaft wurde nicht selten heißer diskutiert als in manchen Ländern die Thronfolge. Deshalb hatte die sehr aufgeschlossene und heitere neue Herrin von Hurst Hall einige Zeit gebraucht, um das Personal für sich zu erobern. Doch im Laufe der Jahre hatte sie erst den widerwilligen Respekt der Dienstboten gewonnen und schließlich ihre Zuneigung und unverbrüchliche Loyalität.
Mr Hurst nannte sie sein kostbares Mädchen und war hocherfreut, als sich herausstellte, dass Nora neben ihrer erstaunlichen Fähigkeit, Kranke zu heilen, auch noch über einen ausgeprägten Geschäftssinn verfügte. Ihrer klugen Art zu wirtschaften war es zu verdanken, dass die Mühlen Seiner Lordschaft selbst während der schwierigen Jahre nach seinem Tod Gewinn abwarfen.
Man konnte über ihre Herkunft und ihre mitunter derbe Ausdrucksweise ja sagen, was man wollte, aber so viel stand fest:
Obwohl sie weder Reichtum noch eine gesellschaftliche Stellung mitgebracht hatte, machte sie ihren Mann an jedem Tag ihrer Ehe glücklich.
Wie zu erwarten gewesen war, hatte Mr Hurst ihr all seine Ländereien und sein gesamtes Vermögen hinterlassen, und sie ging mit dem Besitz weiter so sorgfältig um wie zu seinen Lebzeiten. Sie pflegte zu sagen, an ein bisschen Sparsamkeit sei noch niemand gestorben. Die Dienstboten mussten die Kerzen zählen, und Fleischreste wurden zum Kochen von Suppe benutzt. Die Möbel durften im Laufe der Zeit durch den Gebrauch ruhig ein wenig schäbig werden, doch Gegenstände, die man nicht reparieren konnte, ersetzte Madam sofort. Zum Beispiel die Vorhänge im Empfangszimmer, die schließlich zu dünn geworden waren, um sie noch zu flicken. Bei dieser Gelegenheit hatte sie sehr schöne rote Samtvorhänge gekauft, die den ganzen Raum sofort eleganter erscheinen ließen und von so guter Qualität waren, dass sie mindestens ein Jahrzehnt halten würden.
MacNair wünschte sich nur, Madam würde sich ein wenig mehr dem Diktat der Mode unterwerfen. Selten trug sie etwas anderes als schlichte graue Kleider, die sie mit verschiedenen Schultertüchern und bequemen Stiefeletten kombinierte.
MacNair und die anderen Diener vermissten auch die vornehmen Dinnerpartys, die ihr Herr immer gegeben hatte und bei denen ihm Madam normalerweise am anderen Ende der langen Tafel gegenübergesessen hatte - und leutselig Hof hielt unter den snobistischen und selbstgefälligen Mitgliedern des Landadels. Seit Hurst im hohen Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben war, fanden diese Gesellschaften nicht mehr statt.
Obwohl sie sprach wie eine Frau aus dem Volk, war Madams Benehmen niemals gewöhnlich. Ihr Geist war kühn, und ihre Auffassungsgabe außergewöhnlich. Ihren scharfen blauen Augen entging nichts.
„Ach, steh doch da nicht so herum! Lies ihn mir vor.“ Madam wedelte mit einem der Briefe in MacNairs Richtung. „Sobald wir damit fertig sind, geh’ ich ins Dorf und helf’ Mrs Bruce mit ihrem kranken Kind. Sie glaubt, es ist die Grippe, aber ich glaub’, das kleine Ding zahnt.“
Unglücklicherweise reichte ihre Heilkraft nicht aus, um ihr eigenes nachlassendes Augenlicht zu verbessern.
MacNair faltete den Briefbogen auseinander. „Dieser hier ist von Miss Caitlyn.“
Madam stellte ihre Teetasse ab. „Was hat das Mädchen zu erzählen?“
McNair las: „,Liebste Mam, ich hoffe, dieser Brief trifft dich bei guter Gesundheit an. Wie du sicher schon weißt, wurde ich
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