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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht umgestoßen wurde wie ein Kegel, und nun stand sie bis zu den Knöcheln in herabgefallenem Laub, hielt ihr Einkaufsnetz in einer Hand und betrachtete Ralph unter ihren buschigen melierten Brauen hervor. Die Aura, die sie umgab, hatte das strenge, nüchterne Grau einer West-Point-Uniform.
    »Bist du betrunken, Roberts?«, fragte sie mit schneidender Stimme, und da verschwand das Chaos der Farben und Empfindungen aus der Welt, und er befand sich wieder nur in der Harris Avenue, die an einem herrlichen Herbstmorgen vor sich hindämmerte.
    »Betrunken? Ich? Ganz und gar nicht. Nüchtern wie ein Richter, im Ernst.«
    Er hielt ihr die Hand hin. Mrs. Perrine, die schon über achtzig war, es sich aber um keinen Preis anmerken ließ, betrachtete seine Hand, als könnte er einen Elektrosummer darin verborgen haben. Das würde ich dir zutrauen, Roberts, schienen ihre kalten grauen Augen zu sagen. Das würde ich dir durchaus zutrauen. Sie kam ohne Ralphs Hilfe wieder auf den Bürgersteig.
    »Tut mir leid, Mrs. Perrine. Ich habe nicht auf den Weg geachtet.«
    »Nein, das hast du eindeutig nicht. Hast mit offenem Mund die Zeit vertrödelt. Du hast ausgesehen wie der Dorftrottel.«
    »Tut mir leid«, wiederholte er, und dann musste er sich auf die Zunge beißen, um nicht in wieherndes Gelächter auszubrechen.

    »Hmp.« Mrs. Perrine sah ihn langsam von oben bis unten an wie ein Ausbilder der Marines, der einen widerborstigen Rekruten mustert. »Dein Hemd ist unter der Achsel zerrissen, Roberts.«
    Ralph hob den linken Arm und sah nach. Sein kariertes Lieblingshemd hatte tatsächlich einen großen Riss. Er konnte den Verband mit dem getrockneten Blutfleck darauf sehen; außerdem ein unansehnliches Gestrüpp Achselbehaarung eines alten Mannes. Er ließ den Arm hastig wieder sinken und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss.
    »Hmp«, sagte Mrs. Perrine noch einmal und drückte damit ihre vollständige Meinung über Ralph Roberts aus, ohne einen einzigen Vokal zuhilfe zu nehmen. »Bring es mir zu Hause vorbei, wenn du möchtest. Und alles andere, das du zu flicken hast auch. Ich kann immer noch mit der Nadel umgehen, weißt du.«
    »O ja, daran zweifle ich nicht, Mrs. Perrine.«
    Nun bedachte Mrs. Perrine ihn mit einem Blick, der sagte: Du bist ein vertrockneter alter Arschkriecher, Ralph Roberts, aber dafür kannst du wahrscheinlich nichts.
    »Aber nicht am Nachmittag«, sagte sie. »Nachmittags helfe ich, das Essen im Obdachlosenasyl zu machen, und um fünf helfe ich, es zu servieren. Das ist Gottes Arbeit.«
    »Ja, da ganz gewiss …«
    »Im Himmel wird es keine Obdachlosen geben, Roberts. Verlass dich drauf. Und auch keine zerrissenen Hemden, da bin ich mir ganz sicher. Aber solange wir hier sind, müssen wir auf Zack sein und sehen, dass wir zurechtkommen. Das ist unsere Aufgabe.« Und ich erledige sie außergewöhnlich gut, stand unausgesprochen in Mrs. Perrines
Gesicht. »Bring das, was du zu flicken hast, am Morgen oder am Abend vorbei, Roberts. Du musst nicht auf Etikette achten, aber wage es nicht, nach halb neun bei mir aufzukreuzen. Ich gehe um neun zu Bett.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Perrine«, sagte Ralph und musste sich wieder auf die Zunge beißen. Er spürte, dass dieser Trick bald nicht mehr funktionieren würde; bald würde es heißen: Lach oder stirb.
    »Keineswegs. Christenpflicht. Außerdem war ich mit Carolyn befreundet.«
    »Danke«, sagte Ralph. »Schrecklich, das mit May Locher, nicht?«
    »Nein«, sagte Mrs. Perrine. »Gottes Gnade.« Und sie zog ihres Weges, bevor Ralph ein weiteres Wort sagen konnte. Ihr Rücken war so unglaublich gerade, dass es wehtat, ihn anzusehen.
    Er ging ein Dutzend Schritte weiter, dann konnte er nicht mehr an sich halten. Er stützte sich mit einem Arm an einem Telefonmast ab, presste den Mund auf den Arm und lachte so leise er konnte - bis ihm Tränen die Wangen hinabliefen. Als der Anfall (genau so fühlte es sich an, wie ein hysterischer Anfall) vorbei war, hob Ralph den Kopf und sah sich mit wachsamen, neugierigen, leicht tränenverschleierten Augen um. Er sah nichts, das nicht jeder andere auch sehen konnte, was ihn mit Erleichterung erfüllte.
    Aber es wird wiederkommen, Ralph. Du weißt es. Alles.
    Ja, er vermutete, dass er das wusste, aber darum konnte er sich später kümmern. Zunächst musste er mit jemandem reden.

3
    Als Ralph schließlich von seiner erstaunlichen Tour die Straße entlang zurückkehrte, saß McGovern in seinem Sessel

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