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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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LEBEN IST KEINE ENTSCHEIDUNG, stand darauf.
    »Werden Sie heute Abend die Veranstaltung im Bürgerzentrum besuchen?«, fragte Ralph sie.
    »Ich werde da sein«, sagte sie und stellte das Tablett auf den freien Tisch neben ihrem, damit sie die Hände freibekam. »Draußen. Mit einem Schild. Im Kreis marschieren.«
    »Gehören Sie zu den Friends of Life?«, fragte Lois, als die Kellnerin Omelettes und Beilagen verteilte.
    »Bin ich am Leben?«, fragte die Kellnerin.
    »Ja, das scheinen Sie durchaus zu sein«, sagte Lois höflich.
    »Nun, ich schätze, dann bin ich ein Friend of Life, oder nicht? Jemanden zu töten, der eines Tages vielleicht ein großartiges Gedicht schreiben oder ein Heilmittel gegen Aids oder Krebs erfinden könnte, ist meiner Meinung nach einfach total falsch. Darum werde ich mein Schild hochhalten und darauf achten, dass die Norma-Kamali-Feministinnen und Volvo-Liberalen auch sehen, dass das Wort MORD darauf steht. Sie hassen dieses Wort. Sie benutzen es nicht bei ihren Cocktailpartys und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Brauchen Sie Ketchup?«
    »Nein«, sagte Ralph. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ein schwaches grünes Leuchten breitete sich um sie herum aus - es schien fast aus ihren Poren gezischelt zu kommen. Die Auren kamen wieder und erwachten zu vollem, strahlendem Glanz.
    »Ist mir’n zweiter Kopf gewachsen, als ich nicht aufgepasst hab, oder was?«, fragte die Kellnerin. Sie ließ den
Kaugummi platzen und schob ihn auf die andere Seite des Mundes.
    »Ich habe Sie angestarrt, was?«, fragte Ralph. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Entschuldigung.«
    Die Kellnerin zuckte die kräftigen Schultern, was den oberen Teil ihrer Aura in eine träge, faszinierende Bewegung versetzte. »Ich versuche, mich nicht zu sehr hineinzusteigern, wissen Sie. Meistens tue ich meine Arbeit und halte den Mund. Aber das soll nicht heißen, dass ich kusche. Wissen Sie, wie lange ich schon vor diesem Backsteinschlachthof herumspaziert bin, und zwar an so heißen Tagen, dass mir der Hintern anfing zu kochen, und in so kalten Nächten, dass ich ihn mir fast abgefroren habe?«
    Ralph und Lois schüttelten die Köpfe.
    »Seit 1984. Neun lange Jahre. Und ich werde es weitere neun machen, wenn es erforderlich sein sollte. Wissen Sie, was mich an den Befürwortern am meisten aufregt?«
    »Was?«, fragte Lois leise.
    »Es sind dieselben Leute, die Waffen verbieten lassen wollen, damit die Leute sich nicht mehr gegenseitig damit erschießen, die die Gaskammer und den elektrischen Stuhl für verfassungswidrig halten, weil sie eine grausame und ungewöhnliche Strafe darstellen. Das alles sagen sie, und dann gehen sie auf die Straße und unterstützen Gesetze, die Ärzten - Ärzten! - erlauben, einer Frau einen Staubsauger in die Gebärmutter zu schieben und deren ungeborene Söhne und Töchter in Stücke zu reißen. Das regt mich am meisten auf.«
    Die Kellnerin sagte das alles - wie eine Ansprache, die sie schon viele Male gehalten hatte -, ohne die Stimme zu heben oder äußerlich auch nur eine Spur von Wut erkennen
zu lassen. Ralph hörte ihr nur mit halbem Ohr zu; der größte Teil seiner Aufmerksamkeit galt der hellgrünen Aura, die sie umgab. Aber sie war nicht nur hellgrün. Ein gelblich-schwarzer Fleck drehte sich langsam wie ein schmutziges Wagenrad über der unteren rechten Seite.
    Ihre Leber, dachte Ralph. Etwas stimmt nicht mit ihrer Leber.
    »Sie möchten doch nicht wirklich , dass Susan Day etwas zustößt, oder?«, fragte Lois und sah die Kellnerin mit besorgtem Blick an. »Sie scheinen ein netter Mensch zu sein, und ich bin mir sicher, das wollten Sie nicht.«
    Die Kellnerin seufzte durch die Nase, was zwei dünne Strahlen grünen Dunsts erzeugte. »Ich bin nicht so nett, wie ich aussehe, Süße. Wenn Gott ihr etwas antun würde, dann wäre ich die Erste, die vor Freude Luftsprünge macht und sagt: ›Dein Wille geschehe‹, glauben Sie mir. Aber wenn Sie einen Irren meinen, das ist etwas anderes. So etwas bringt uns alle in Verruf und stellt uns auf eine Stufe mit den Leuten, die wir aufzuhalten versuchen. Aber die Irren sehen das nicht so. Sie sind die Joker im Spiel.«
    »Ja«, sagte Ralph. »Joker im Spiel, genau das sind sie.«
    »Ich glaube, ich möchte nicht, dass dieser Frau etwas Schlimmes zustößt«, sagte die Kellnerin, »aber es könnte sein. Wirklich. Und wenn ihr etwas passiert, ist sie meiner Meinung nach ganz allein daran schuld. Sie heult mit den Wölfen … und

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