Schlafwandler
also auch Nazi.
Während des
Mittagessens in der Polizeikantine versuchte Gunther, seinen Fehler
wiedergutzumachen, und lieferte Kraus stolz die letzte bekannte
Adresse der verschwundenen Amerikanerin Gina Mancuso, die er im
Wohnungsregister von 1931 gefunden hatte.
»Und«,
sein großer Adamsapfel hüpfte aufgeregt in seinem
giraffenähnlichen Hals auf und ab, »sie hatte eine
Mitbewohnerin, Paula Hoffmeyer. Die wohnt noch
dort.«
Kraus warf einen Blick
auf die Adresse. Sie lag in einem der ärmsten Viertel
Berlins.
»Ausgezeichnet.
Ich werde selbst dorthin gehen, bei der nächsten
Gelegenheit.« Er schob die Adresse in sein Notizbuch.
»Gunther, sagen Sie, sind Sie jemals in der Hölle gewesen?«
»Wie bitte,
Chef?«
»Die Hölle .
Der Club. Waren Sie jemals dort?«
»Nein.«
Das lange Gesicht des Jünglings verzog sich zu einem
anzüglichen Grinsen. »Aber ich würde sie verdammt
gern mal besuchen.«
»Kaufen Sie sich
ein ordentliches Jackett. Wir gehen heute Abend hin. Bis dahin
graben Sie alles aus, was Sie über diesen Doktor Hermann
Meckel finden können.«
Das Medizinische
Zentrum der Nazis am Spittelmarkt war eher ein kleines Krankenhaus
als eine Klinik. Es besaß eine Röntgenabteilung,
Operationssäle und auf den großen Stationen lagen die
Mitglieder der Sturmtruppen, die bei den Straßenkämpfen
mit den Roten zusammengeschlagen worden waren. Kraus hatte lange
genug beim Militär gedient, um die Streifen am
Uniformärmel des Mannes zu erkennen, der ihm als Meckel
vorgestellt wurde. Der gute Doktor war SA-General.
Die Sturmabteilung war natürlich
keine richtige militärische Organisation. Es war nur eine der
verschiedenen privaten, paramilitärischen Armeen, welche die
Weimarer Republik im Namen der Toleranz zugelassen hatte, obwohl
sie die Vernichtung ebendieser Republik anstrebte. In Berlin war
die Kommunistische Rotfront ebenso mächtig gewesen wie die SA.
Aber seit dem Trauma der Depression und unter Führung des
charismatischen Ernst Röhm war die SA geradezu explosionsartig
expandiert. Ihre Mitgliederzahl hatte gerade erst die
Fünfhunderttausend-Marke überschritten, und damit war die
SA fünfmal größer als die gesamte deutsche Armee.
Alle trugen die charakteristischen kniehohen Stiefel, weite braune
Hosen mit passender Jacke, hohe, spitze Kappen und blutrote
Hakenkreuz-Armbinden. Ursprünglich hatte die SA die Aufgabe
gehabt, die politischen Versammlungen der Nazis zu beschützen.
Aber der Führer hatte schon bald erkannt, wie nützlich
sie waren, um seinen Widersachern die Schädel einzuschlagen,
vor allem den Kommunisten. Unter Röhm schließlich hatte
die SA ein ausgedehntes Netz von sozialen Diensten aufgebaut:
Suppenküchen, Ausbildungsprogramme, freie medizinische
Versorgung. Heutzutage fehlte in keiner deutschen Stadt oder
größeren Ortschaft eine Abteilung der
Braunhemden.
»Doktor
Meckel.« Kraus hielt seinen Ausweis hoch.
Der Arzt war in
mittlerem Alter und besaß nicht mehr sonderlich viele Haare,
wirkte aber kräftig und hatte die starken, feingliedrigen
Hände eines Pianisten. Er betrachtete Kraus’ Ausweis und
verengte kurz seine scharfen, blauen Augen, die dann jedoch sofort
vor Charme fast zu explodieren schienen.
»Inspektor
Kraus, welche Ehre! Natürlich kenne ich Sie! Wer in Berlin
würde Sie nicht kennen. Wie Sie psychologische Einsichten
verwendet haben, um den Kinderschänder aufzuspüren, das
ist wirklich beispielhaft. Was kann ich denn für Sie tun?
Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen
Kaffee?«
»Danke. Ich bin
wegen einer Patientin hier, die Sie kürzlich in Ihrer Praxis
behandelt haben.« Kraus zog ein Foto der Prinzessin aus der
Tasche.
Der Arzt betrachtete
es, als wäre es ein teures Erinnerungsstück. »Ah
ja, Marilyn so und so, richtig?«
»Magdelena.«
»Ja. Ja,
natürlich. Sie kam wegen eines verstauchten Knöchels zu
mir. Hat sich deswegen mächtig angestrengt, typisch Frau,
wissen Sie. Ich habe ihren Knöchel verbunden und ihr ein paar
Kodeintabletten gegeben. Und ihr geraten, den Knöchel so gut
wie möglich zu schonen.«
Kodein? Kraus
überlegte, ob das Medikament vielleicht diesen etwas
abwesenden Zustand verursacht haben könnte, den Rudy für
Schlafwandeln gehalten hatte.
»Wie stark waren
die Tabletten, Doktor?«
»Fünf
Milligramm. Ich habe sie ihr hauptsächlich wegen des
Placebo-Effekts verschrieben. Warum? Ist etwas passiert? Sie sind
doch bei der Mordkommission. Ist sie etwa
…?«
»Wir hoffen
nicht, Doktor. Aber die
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