Schlag weiter, Herz
Kohle!«
Mert hielt es für höflich, seine Meinung über Maske für sich zu behalten. Felix musste von seinen Erfolgen im Westen berichten, doch er ließ auch nicht aus, dass er seinen letzten Kampf gegen Mert verloren hatte. Ohne Mert anzusehen, sagte Felix: »Der hat mich in nur einer Runde auseinandergenommen. Ich bin noch nie härter geschlagen worden.« Die alten Männer von Lokomotive Görlitz nickten respektvoll. Es war ein Geschenk, und Mert verstand es als solches. Felix redete sich nicht raus. Er sprach nicht über die Umstände, unter denen Mert gewonnen hatte, und versuchte seine Niederlage nicht kleiner zu machen. Felix wollte, dass Mert sich in dieser Umgebung respektiert fühlte. Mert gehörte zur Familie.
Als die Trauergäste gegangen waren, blieben nur noch Mutter Borau, Nadja, Felix, Mert und Angelika sowie Anna und Jörg, die vor dem Fernseher saßen. Sie aßen zu Abend und schliefen in den ehemaligen Kinderzimmern. Mert und Nadja mussten sich auf einem schmalen Bett zusammendrücken, bis Mert nachts um drei eine Decke nahm und sich auf den Boden legte.
Als er morgens aufwachte, lag Nadja wach im Bett und starrte an die Wand. Mert rappelte sich auf und küsste sie. Nadja versuchte ein Lächeln, doch ihr Blick blieb an der Wand hängen. Dort stand auf einem Regal ein riesiges Lebkuchenherz, wie man sie auf dem Dom kaufen konnte. »Sexy Hexy« stand darauf in Zuckerguss geschrieben.
»Geht’s dir gut?«, fragte Mert.
»Ich bin nur froh, dass ich nicht mehr hier sein muss. Es tut mir leid wegen meiner Mutter, aber ich hoffe, wir können schnell wieder fahren.«
Sie stand auf, nahm das Herz von der Wand und ging in Unterwäsche in die Küche, wo ihre Mutter bereits das Frühstück zubereitete. Mert folgte ihr. Nadja versuchte das Herz zu zerbrechen, damit es in den Mülleimer passte, aber nachdem es so viele Jahre an der Wand gehangen hatte, war es trocken und zäh. Als Mert sah, dass Nadja sich immer verzweifelter abmühte, half er ihr. Er zerbrach den Lebkuchen in zwei Hälften, dann jede Hälfte noch mal. Nachdem das Herz seine Festigkeit verloren hatte, ließ es sich zerkleinern. Nadja schmiss die Reste weg.
Die Abfahrt zog sich bis zum Nachmittag. Nachbarn kamen vorbei, Kuchen wurde in Frischhalteboxen verpackt. Dann brachen sie wieder in Richtung Hamburg auf.
Von Angelika schien die verordnete Trauer schon abzufallen, als sie das Ortsschild Görlitz passierten. Sie plapperte mit Anna und Jörg und drängte Nadja Fachgespräche über Mutterschaft auf. Seit Annas Geburt sprach Angelika ausschließlich über Schwangerschaft, Geburt, Stillzeit, Krabbelgruppe, Kita, Kindergarten, Kinderwagenkauf, Breizubereitung, Wickeltechnik, Schulanmeldung. Mert drehte sich immer wieder nach hinten, um Nadja abzulenken oder zu unterstützen. Aber alles, was er zustande brachte, war, ihr das Knie zwischen den beiden Frontsitzen hindurch zu tätscheln.
Zu Hause angekommen, ließ Nadja sich aufs Sofa fallen.
»Anstrengend, zwei so Kinder, oder?«, fragte Mert.
Nadja schlüpfte in eine Jogginghose und machte etwas zu essen, danach sahen sie fern und gingen ins Bett. »Na komm schon her«, sagte Mert, als er Nadja zu sich zog, und sie schliefen ineinander verschlungen ein.
39
Als Mert nach Hause kommt, brennt Licht im ersten Stock. Er wundert sich, geht hoch und sieht, dass er die Lampe in seiner Wohnung angelassen hat. Enttäuschung macht sich breit.
Er läuft in der Wohnung auf und ab, schaut über den Balkon, aber der kleine Ali ist nicht da. Machst es schon richtig, denkt Mert, such dir eine nette Hundedame und bau keinen Scheiß.
Mert legt sich aufs Bett, nimmt eines der Bücher – »Das Parfum« – und fängt wieder von vorne an. Nach zehn Seiten nickt er ein. Aber dann verliert er die Geduld mit sich und liest mit derselben Sturheit weiter, mit der er seit Jahren trainieren geht.
In ihrer ersten Nacht hatte er Nadja gefragt, warum sie so gerne las. Sie hatte lange nachgedacht und geantwortet: »Weil ich mich mit Büchern nicht so alleine fühle. Die Figuren in den meisten Büchern sind Außenseiter, die sich nur tarnen, um gesellschaftlich zu funktionieren. So fühle ich mich auch oft, als würde ich versuchen reinzupassen, mit meinen Merkwürdigkeiten.«
»Was denn für Merkwürdigkeiten?«
»Das kann ich schwer erklären. Irgendwie scheinen sich alle Menschen ganz selbstverständlich so zu verhalten, wie man es halt tut. Die sind glücklich, wenn die Sonne scheint, und freuen sich auf die
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