Schlag weiter, Herz
so lässig wie die anderen. Mert entschied sich für den ersten. Er kostete 680 Euro. Weder Nadja noch Mert hatten je so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgegeben. Sogar ihr Bett war günstiger gewesen.
Mert verschwand mit zufriedener Miene in der Kabine und kam in Jeans, Turnschuhen, T-Shirt und Lederjacke wieder heraus, wie Clark Kent, der sich in Superman zurückverwandelt.
»Der steht Ihnen wirklich besonders gut«, sagte der Verkäufer, als er den Anzug zur Kasse trug. Mert nickte und blickte zu Nadja, die an ihrer Nagelhaut zupfte. Dann fragte er den Verkäufer: »Das Kleid da in der Mitte, wie viel kostet das?«
Der Verkäufer folgte Merts Zeigefinger, bis sein Blick an dem grünen Kleid ankam. »Das ist unser letztes, es kostet neunhundert Euro.«
»Das nehmen wir auch.«
»Wollen Sie es nicht anprobieren?«
Mert sah an Nadja runter, dann taxierte er das Kleid.
»Das passt.«
Nadja konnte nicht widersprechen. Der Verkäufer nestelte das Kleid von der Puppe, faltete es sorgfältig zusammen und legte es, in Seidenpapier eingeschlagen, in eine große, starkwandige Tüte. Den Anzug schob er dazu. Mert zog einen Batzen Bargeld aus der Außentasche seiner Jacke und zählte 1.580 Euro ab. Als sie sich aus der steifen Atmosphäre des Ladens befreit hatten und wieder auf der Mönckebergstraße standen, sagte Nadja nur: »Du spinnst.«
Zu Hause zog Nadja sich im Schlafzimmer um, während Mert auf dem Sofa wartete, nervös wie ein Boxer, bevor er aus der Kabine gerufen wird. Nadja kam ins Wohnzimmer. Das Kleid saß perfekt.
41
Mert bereitet sich auf seinen Kampf vor. Er hat bis neun Uhr geschlafen, einen tiefen, erholsamen Schlaf. Am Abend zuvor hat er »Das Parfum« fast zu Ende gelesen. Er hofft, dass Grenouille, von dem er nicht weiß, wie man seinen Namen ausspricht, davonkommt, auch wenn er all die Frauen getötet hat. Mert fragt sich, warum er zu dem Mörder hält, ob das etwas über ihn aussagt. Oder ob er hofft, dass Nadja auch auf seiner Seite war, als sie das Buch las. Ob Mert sie an Grenouille erinnerte, ob sie Verständnis hatte für den Mann, der etwas besonders gut machen wollte und dabei so viel Schlechtes tat. Ob sie sich in seiner Gesellschaft weniger merkwürdig gefühlt hatte. Mert fehlen noch knapp fünfzig Seiten, aber heute wird er sie nicht mehr lesen können. Sein Kopf ist beherrscht von dem Kampf.
Liegestütze und Bauchaufzüge hat er bereits absolviert, bei der Massage war er auch. Er hat der Frau seines Vermieters beim Putzen zugesehen und ihr hundert Baht mehr als sonst gegeben. Er fühlte sich danach. Der Tag ist zäh vergangen, aber jetzt, wo die Sonne untergeht, kommt es Mert vor, als sei die Zeit gerast. Er zieht seine vom Inder geschneiderte kurze Hose und sein Hemd an. Die feine Garderobe. Die Hose hat eine Bügelfalte, sie endet knapp über dem Knie. Das Hemd hat Laschen an den Schultern und umgenähte kurze Ärmel, die am Bizeps kneifen, was Mert noch muskulöser erscheinen lässt. Er zieht Espandrillos an, keine Flip-Flops. Er packt seine Kampfhose, sein Suspensorium, seinen Mundschutz, seine Bandagen, Duschgel, Zahnpasta, Zahnbürste, Deo, Handtuch und eine frische Unterhose in zwei Tüten, die er verknotet und in seine große Sporttasche steckt. Der Hund hat sich an die Ausflüge in der Tasche gewöhnt, aber Mert will nichts riskieren.
Er steckt ein wenig Geld ein, obwohl er die Börse direkt nach dem Kampf von Mister Sambot ausgezahlt bekommt. Als Letztes nimmt er sich das Bild, das Nadja und ihn auf dem Hamburger Dom zeigt, und schiebt es in seine Brusttasche. Seit gestern ist Mert dreiundvierzig Jahre alt. Er hätte nie gedacht, dass er so alt werden würde. Die Zahl erschien ihm unerreichbar. So weit weg wie Amerika oder der Mond. Dann hatte er der Zeit so lange beim Vergehen zugesehen, bis er alt wurde. Seine Geburtstage feierte er nie, Nadja hatte das für ihn erledigt, in den Zeiten, in denen sie zusammen waren. Nadja legte Wert auf Geburtstage. Er nicht. Auch wenn er es immer schön fand, dass sie einen besonderen Tag für ihn daraus machte, mit Kuchen, mit Geschenken, mit einem besonderen Essen. Aber er hatte vor ihr nie gefeiert und nach ihrer Trennung auch nicht. Gestern hätte er seinen Geburtstag fast vergessen, wenn er nicht noch mal im Internetcafé gewesen wäre und eine Mail von Felix vorgefunden hätte. Felix wollte ihm gratulieren und sich erkundigen, wie es ihm geht. Mert hatte wieder nicht geantwortet.
Dreiundvierzig Jahre. Sechzehn davon hat
Weitere Kostenlose Bücher