Schlag weiter, Herz
er mit Nadja verbracht, ob sie gerade zusammen waren oder nicht. »Das Leben endet nicht mit dem Tod, genauso wenig wie es mit der Zeugung beginnt«, hatte Nadja einmal zu ihm gesagt. So gesehen ist Mert erst sechzehn Jahre alt. Nur sein Körper ist dreiundvierzig. Vielleicht auch schon dreiundfünfzig oder dreiundsechzig. Je nach Tagesform.
An guten Tagen denkt Mert, dass er immer noch alles lernen, alles werden kann. Dass er ein junger, gesunder Mann ist. Einer, den man lieben könnte. An schlechten Tagen fühlt er sich betrogen, dass er nicht mehr das machen darf, was er machen will, dass er zu alt sein soll für das, was ihn zusammenhält. Der Ring ist seine Freiheit, keine Begrenzung. Die Seile sperren die Welt aus, diese komplizierte, unbe greifbare Welt. Wenn er im Ring steht, muss er nichts sehen, außer seinem Gegner. Er ist schon hundertmal gefragt worden, ob er seine Gegner hasst. Eine dumme Frage. Mert liebt seine Gegner. Sie sind wie er. Sie sind ihm näher als jeder andere Mensch, der außen um den Ring herumsitzt. Sie sind seine Brüder. Nadja ist der einzige Mensch, der ihm je näher gekommen ist als seine Gegner.
Ali ist weg. Mert will den Hund zum Kampfabend mitnehmen, doch ausgerechnet jetzt liegt er nicht vor der Tür, wo er sonst immer auf ihn wartet. Mert ruft nach ihm, und der Hund kommt aus einer Seitengasse angewetzt. Seine Pfoten fegen kleine Brocken aus dem Straßenbelag.
Mert packt Ali in seine Tasche, setzt sich aufs Motorrad und fährt zu der Garküche, die an der Hauptstraße kurz vor der Bangla Road in einem Hinterhof liegt. Eine Rückwand aus Beton, vier Streben halten das Dach zur Straße, ein paar Poster sollen den Ort freundlicher machen. Mert bestellt zwei Portionen Huhn, setzt sich und beobachtet einen Pick-up, der draußen auf der Straße im Kriechgang vorbeifährt. Auf die Ladefläche haben sie eine Bühne gebaut, mit kurzen, schlaffen Ringseilen. Die Karikatur eines Boxrings. Ein Thai-Boxer zeigt Tritte und Schläge gegen die Pratze eines anderen. Dazu quäkt es aus den Lautsprechern. »Tonight, tonight, Bangla Boxing Stadium. See the real fights, see the champions. See the best of the best. Tonight, tonight …«
Auf den Seitenwänden des Pick-ups klebt ein Plakat, acht Kämpfer sind darauf abgebildet, ausgeschnitten aus Fotos, die sie in Kampfhaltung zeigen. Dahinter Flammenmotive, große Buchstaben, Nationalflaggen. Merts Konterfei prangt am größten in der Mitte, er macht den Hauptkampf. Mert beobachtet, wie sein altes Bild vorbeizieht, er sieht fast zierlich darauf aus und weicher im Gesicht. Sie haben es schlampig ausgeschnitten, vergrößert und einmontiert. »German Champion« steht darunter. Mert hatte nie behauptet, deutscher Meister gewesen zu sein, sondern vor seinem ersten Thai-Boxkampf lediglich erzählt, um die Meisterschaft geboxt zu haben. Aber sie schreiben es seitdem immer auf die Kampfplakate, und niemand beschwert sich darüber.
Mert hat keinen Hunger, ihm ist schlecht vor Aufregung. Aber er würgt sich gebratenen Reis mit Huhn hinunter, dazu zwei Bananen-Shakes, damit er beim Kampf nicht leerläuft. Nachdem Mert die zweite Portion halb aufgegessen hat, fühlt er Brechreiz und stellt den Rest unter den Tisch zu Ali, der ihn in wenigen Sekunden vertilgt. Mert legt dreihundert Baht auf die Plastiktischdecke, stellt das zweite, halbvolle Glas Bananen-Shake auf die Scheine, geht in den Supermarkt nebenan und kauft sich eine große Tüte M&Ms, die er in den Stunden vor dem Kampf langsam aufessen wird. Die Großbuchstaben auf der Verpackung erinnern ihn jedes Mal an früher, an Mert oder Marcel, an Nadja.
Auch egal, denkt er. So lange her. Hauptsache, wir waren zusammen.
Für die letzten achthundert Meter die Beach Road entlang packt er Ali nicht in die Tasche. Der Hund trabt neben ihm her, bellt ab und zu, um seine Anwesenheit anzuzeigen, und schlängelt sich durch die Beine der Touristen. Mert tuckert bis zur Kreuzung der Bangla Road und bockt das Motorrad auf. Er stellt es gleich in der Nähe der Sunshine Bar ab, wo er nach dem Kampf feiern will.
Ali schnuppert wie verrückt an allem: Füße, Getränkedosen, Papier, in dem Grillspieße eingewickelt waren. Beide gehen die Bangla Road hoch bis zum Stadion. Ali sprintet vor und zurück, bleibt an einem neuen Geruch hängen, schließt wieder zu Mert auf, rennt kreuz und quer über die Straße, weicht im letzten Moment heranfahrenden Mopeds aus, trinkt aus einer Pfütze, findet einen Rest Knochen am
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