Schlamm, Schweiß und Tränen
ins Gletschertal schaute, wurde mir die extreme
Steilheit dieser Flanke erst richtig bewusst, die wir vor nur zwölf Stunden in eisigem Wind und Schnee durchklettert hatten. Während ich
dasaß und wartete, überprüfte ich noch einmal meinen Klettergurt.
Kurz darauf waren alle startklar und wir begannen mit dem Abstieg.
Das Seil glitt durch meine Abseilvorrichtung und fing an zu surren, je schneller ich wurde. Es war schon ein Wahnsinnsgefühl, sich
so rasant an dieser Gletscherwand abzuseilen. Mein Abseilachter wurde ganz warm, weil das Seil so schnell durch die große Öse des
Achters sauste.
Jetzt zeigte sich der Everest von seiner schönsten Seite.
Ich versuchte, möglichst nicht daran zu denken, wie viele Hundert
Meter schweißtreibenden mühevollen Aufstiegs mir da gerade durch
die Hände glitten. Und ich wollte erst recht nicht daran denken, dass
ich diese Wand wieder hinaufklettern müsste, wenn wir auf Lager 4
und zum Gipfel vorstoßen.
Denn allein der Gedanke daran, war quälend genug.
Fürs Erste war ich einfach nur zufrieden, dass ich Lager 3 überlebt
hatte; dass ich bewiesen hatte, dass mein Körper den Strapazen in der
extremen Höhe jenseits von 7.300 Metern gewachsen war und dass ich
mich bei gutem Wetter nun auf dem Rückweg ins Basislager befand.
Als wir Lager 2 erreichten, fiel die ganze Anspannung von uns ab.
Wir waren euphorisch.
Am Tag darauf sind wir dann weiter zum Basislager abgestiegen,
wobei wir die Überquerung der Gletscherspalten mit einem ganz neuen Gefühl von Selbstvertrauen gemeistert haben.
Mit diesem Auf- und Wiederabstieg war nun die zweite Rotation
im Rahmen unserer Akklimatisationsphase abgeschlossen.
Mittlerweile erhielten wir täglich sehr genaue Wettervorhersagen
des britischen Wetterdienstes Bracknell Weather Centre. Dank dieser
Vorhersagen wurden wir mit den weltweit absolut präzisesten Wetterdaten versorgt, die man überhaupt bekommen kann. Denn die britischen Meteorologen waren in der Lage, die Windstärken mit einer
Genauigkeit von bis zu neun Kilometern pro Stunde pro 300 Höhenmeter zu berechnen.
Immerhin war es für uns dort oben auf dem Berg überlebenswichtig, dass wir uns auf diese Vorhersagen verlassen konnten.
Jeden Morgen hat sich das gesamte Team immer um den Laptop
versammelt, um zu sehen, mit welchen Wetterbedingungen wir rechnen mussten - doch es sah nicht gut aus.
Denn es schien ganz so, als ob jene ersten Anzeichen für den Aufstieg der warmen Monsunwinde über das Himalaja-Gebirge - das
heißt, jener Zeitraum, in dem die starken Höhenwinde des Jetstreams
über dem Everest-Gipfel schwächer werden - noch nicht zu erkennen
waren.
Das Einzige, was wir tun konnten, war abzuwarten.
Unsere Zelte im Basislager waren mittlerweile zu unserem Zuhause geworden. Jeder hatte Briefe und kleine Andenken von seiner Familie bei sich.
Ich hatte eine Muschel dabei, die ich am Strand der Isle of Wight
gefunden hatte und in die Shara meinen Lieblings-Bibelvers hineingeschrieben hatte - ein Vers, der mir während meiner Zeit beim Militär so viel Kraft gegeben hatte.
„ Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. "Matthäus 28, 20.
Jeden Abend im Basislager las ich diesen Vers immer und immer
wieder, bevor ich mich schlafen legte.
Kein Grund sich zu schämen, wenn man hier oben etwas moralische Unterstützung braucht.
Ich wachte schlagartig auf, weil mir kotzübel war. Ich kroch zum Eingang meines Zelts und kaum hatte ich
den Kopf nach draußen gestreckt, da flog mir auch schon in hohem
Bogen das Essen aus dem Gesicht - quer über das Eis und Geröll.
Ich fühlte mich sterbenselend und mein Kopf hämmerte.
Scheiße. Das war kein gutes Zeichen, und das wusste ich auch.
Es war tagsüber sehr heiß und deshalb lag ich den ganzen Tag zusammengerollt in meinem Zelt im Basislager. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war.
Andy, unser Teamarzt, erklärte mir, dass ich mich zu sehr verausgabt und außerdem eine schwere Bronchitis hätte, die sich hier oben
schnell zu einer handfesten Lungenentzündung auswachsen könnte.
Er verordnete mir eine Behandlung mit Antibiotika und sagte, dass
ich mich unbedingt schonen müsste.
Ich brauchte einfach ein bisschen Zeit, um mich wieder zu erholen. Doch diese Zeit hatten wir nicht.
Als Henry einige Zeit später mit der aktuellen Wettervorhersage
ins Küchenzelt kam, passierte das, wovor ich am meisten Angst hatte.
„Gute Nachrichten, der Monsunwind beginnt
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