Schlamm, Schweiß und Tränen
Punkte auf einer großen weißen Leinwand hoch über uns.
Los, Mick - los, Kumpel. Ich lächelte in mich hinein.
Es war elf Uhr abends und Mick und Neil sollten jetzt jeden Augenblick von Lager 4 aufbrechen. Sie würden das übliche Ritual
durchlaufen: Sie würden sich für eine neue Etappe wappnen, ihre
Ausrüstung checken, die Sauerstoffflaschen überprüfen und ihre
Steigeisen festzurren.
Keine leichte Aufgabe für vier Leute in einem winzigen Zelt auf
7.925 Metern Höhe - und dann noch im Dunkeln.
Am 11. Mai war Vollmond gewesen - eigentlich der ideale Zeitpunkt für eine Gipfelbesteigung. Doch mittlerweile - mehr als eine
Woche später - hatten wir abnehmenden Mond.
Das bedeutete, dass sie die ganze Zeit während des Aufstiegs auf
ihre Stirnlampen angewiesen wären - allerdings haben die Batterien
bei so extremen Minusgraden keine lange Lebensdauer. Doch Ersatz batterien mitzunehmen bedeutet zusätzliches Gewicht. Und ein Batteriewechsel bei minus 35 Grad Celsius mit dicken Daunenhandschuhen ist sehr viel schwerer, als man denkt.
Noch nie zuvor hatte ich mir so sehr gewünscht, an der Seite meines besten Kumpels Mick zu sein wie gerade jetzt.
Die Höhenwinde der Jetstreams waren verstummt; die Nacht war
windstill und die Jungs verließen das Lager frühzeitig, noch vor den
anderen beiden Teams, die dort oben waren. Das war eine gute Entscheidung.
Schon seit sie den Südsattel verlassen hatten, plagte Mick so ein
ungutes Gefühl, dass sein Sauerstoffvorrat vielleicht nicht reichen
würde. Es war eine Vermutung. Ja schon fast eine Vorahnung.
Fünf Stunden später bahnten sich die Gipfelstürmer ohne Seilsicherung sehr langsam und mühsam ihren Weg durch Eis und tiefen
Schnee in Richtung des sogenannten „Balkons" - eine recht lässige
Bezeichnung für einen ziemlich ausgesetzten Felsvorsprung in einer
Höhe von knapp 8.400 Metern.
Die Gipfeltruppe kam langsamer voran als erwartet, denn Micks
Stirnlampe hatte den Geist aufgegeben. Doch in der Dunkelheit und
dem tiefen Schnee war es extrem schwierig, die Batterien zu wechseln.
Nachdem die Wetterverhältnisse anfangs so vielversprechend ausgesehen hatten, zeichnete sich mittlerweile ein Wetterumschwung ab.
Mick und Neil kämpften sich dennoch weiter voran. Karla und
Alan waren hinter ihnen; sie kamen zwar nur langsam, aber stetig
voran.
Um 10:05 Uhr schließlich erreichten Neil und Pasang den Südgipfel. Neil konnte schon die letzte extrem schmale und ausgesetzte,
stark überwechtete Traverse erkennen, über die man zum sogenannten Hillary Step gelangt - jener berühmten 70 Grad steilen Felsstufe,
die das letzte große Hindernis auf dem Weg zum Gipfel darstellt.
Oberhalb des Hillary Steps führt die Route dann auf den letzten 100
Höhenmetern über vergleichsweise flaches Terrain zum eigentlichen
Gipfel des Mount Everest.
Aufgrund der tragischen Ereignisse in der Everest-Saison 1996
blieb Neil die Chance auf eine Gipfelbesteigung damals verwehrt, weil ein weiterer Aufstieg aus Lager 4 unmöglich war. Zwei Jahre danach, war er jetzt wieder vor Ort - dieses Mal allerdings, war der Gipfel für ihn zum Greifen nah.
Er fühlte sich gut und wartete ungeduldig darauf, dass Mick endlich zu ihm stieß. Denn sie müssten das letzte Stück des messerscharfen, überwechteten Eisgrats gemeinsam traversieren, um danach den
Hillary Step zu überklettern.
Neil überfiel auf einmal so eine Ahnung, dass irgendetwas nicht
stimmte.
Denn während er auf Mick und die anderen wartete und wertvolle
Minuten verrannen, beschlich ihn so ein Gefühl, dass sein Gipfeltraum, der schon einmal geplatzt war, ihm wohl auch dieses Mal versagt bleiben würde.
Denn ganz offensichtlich war es unter den Bergsteigern vor dem
Aufstieg zum Gipfel zu einem Missverständnis darüber gekommen,
wer welche Seile einpackt. Das passiert schon mal in extremer Höhe.
Ein simpler Fehler.
Doch Fehler haben Folgen.
Jetzt auf einmal, nur 100 Höhenmeter unterhalb des Gipfels,
dämmerte es allen, dass sie kein Seil mehr zur Verfügung hatten.
Schließlich blieb ihnen in dieser Situation nichts anderes übrig, als
umzukehren. Weiterzugehen war erst recht keine Option.
Neil starrte durch seine Schutzbrille auf den Gipfel hinauf: So nah
und doch so fern. Er fühlte nur noch eine unendliche Leere.
Dann drehte er um und schaute nicht ein einziges Mal mehr zurück.
Um 10:50 Uhr meldete sich auf einmal das Funkgerät. Es war die
Stimme von Mick. Sie klang müde und
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