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Schlamm, Schweiß und Tränen

Schlamm, Schweiß und Tränen

Titel: Schlamm, Schweiß und Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bear Grylls
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baufälligen Balkon in unserer kleinen Unterkunft in einem Seitensträßchen von
Kathmandu geschlurft bin.
    Später bin ich einigen Mitgliedern des russischen Everest-Expeditionsteams begegnet, das über die Nordroute aufgestiegen war. Sie
saßen im Flur auf dem Boden und sprachen mit gedämpfter Stimme.
Als ich an ihnen vorbeiging, schauten sie kurz auf, doch ihre Augen
wirkten müde und leer. Jedem von ihnen stand eine große psychische
Erschöpfung ins Gesicht geschrieben.
    Dann bemerkte ich, dass sie geweint hatten - große starke russische Männer mit Bart saßen da und weinten.
    Sergei und Francys Arsentiev hatten erst vor Kurzem geheiratet.
Sie unternahmen gern Bergtouren. Den Mount Everest zu besteigen,
davon hatten sie beide immer geträumt. Doch dieser Traum war nun
zum Albtraum geworden.

    Francys befand sich bereits auf dem Rückweg vom Gipfel und
war während des Abstiegs plötzlich zusammengebrochen. Niemand
wusste, was die Ursache dafür war: Möglicherweise war es ein
Hirnödem oder die Kälte oder vielleicht auch nur die extreme Erschöpfung, die mit der Besteigung dieses gnadenlosen Berges einhergeht. Sie hatte einfach keine Kraft mehr aufbringen können, um
weiterzugehen. Genau dort, wo sie zusammengebrochen war, ist sie
gestorben.
    Ihr Mann Sergei war mit schwankenden Schritten noch weiter abgestiegen, um Hilfe für sie zu holen. Doch in seiner Verzweiflung
stürzte er, benommen und taumelnd vor Erschöpfung, in den Tod.
    Die Russen fragten mich, ob wir seine Leiche oder zumindest ...
irgendetwas von ihm gesehen hätten.
    Ihre Stimmen klangen matt. Sie wussten, dass es höchst unwahrscheinlich war, aber sie mussten dennoch fragen. Ihr Blick war starr
und leer. Ich merkte, wie auf einmal ein sehr beklemmendes Gefühl
in mir hochstieg, wenn ich mir vorstellte, dass Sergei und seine Frau
beide tot dort oben auf dem Berg lagen - und wir waren irgendwie
seltsamerweise noch am Leben.
    Wie schrecklich schmal doch dieser Grat zwischen Überleben und
tödlicher Katastrophe sein kann.
    An jenem Nachmittag lag ich auf meinem Bett und versuchte
krampfhaft zu ergründen, warum wir mit dem Leben davongekommen waren, während die anderen es nicht geschafft hatten. Sergei und
Francys Arsentiev waren allerdings nicht die Einzigen, die in den letzten Wochen am Berg zu Tode gekommen waren.
    Roger Buick, ein Bergsteiger aus Neuseeland, war aufgrund eines
Herzanfalls zusammengebrochen und gestorben. Mark Jennings, ein
Brite, hatte zwar den Gipfel erreicht, doch auch er ist beim Abstieg
ums Leben gekommen.
    Sie alle waren erfahrene, kräftige und durchtrainierte Bergsteiger.
    Was für ein Verlust, was für ein tragischer Verlust.
    Ganz egal, wie sehr ich auch darüber nachdachte, ich konnte keine
vernünftige Antwort auf das Warum finden. Aber die Russen waren
in ihrer grenzenlosen Verzweiflung auch nicht an einer Antwort auf diese Frage interessiert. Sie fühlten nur diese tiefe, unendliche Traurigkeit über den Verlust ihrer Freunde.

    Die Abenteuerlust liegt schließlich in der Natur des Menschen - und
jedes echte Abenteuer birgt Risiken. Natürlich weiß jeder, dass es lebensgefährlich sein kann, den Mount Everest zu besteigen, doch erst, wenn
man dieser Gefahr in der Realität begegnet und sie mit eigenen Augen
miterlebt, bekommt das Wort „Abenteuer" eine völlig neue Dimension.
    Und diese Dimension wurde mir auf einmal sehr real vor Augen
geführt: Denn hier hatten reale Menschen ihr Leben verloren, und es
waren reale Familienangehörige, die um sie trauerten. Was für ein
tragisches Unglück - es beschäftigt mich noch heute, denn ich kann
es noch immer nicht fassen.
    Dennoch ist es nach wie vor meine tiefe aufrichtige Überzeugung,
dass all die mutigen Männer und Frauen, die während jener Monate
auf dem Mount Everest ihr Leben gelassen haben, die wahren Helden
sind. Denn sie haben letztlich das allergrößte Opfer gebracht, um ihre
Träume zu verwirklichen.
    Und dieses Wissen kann ihren Familien zumindest ein kleines
bisschen Trost spenden.

    Wenn man sich an eine Zeit zurückerinnert, die das eigene Leben
tief greifend verändert und nachhaltig geprägt hat, so fördert man immer erstaunliche Erkenntnisse zutage. Denn wenn ich an die Zeit
meiner Everest-Besteigung zurückdenke, kann ich sagen, dass ich
zwei entscheidende Erfahrungen gemacht habe: Zum einen habe ich
in Extremsituationen starke Freundschaften geschlossen, die jeder
Belastungsprobe standgehalten

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