Schlamm, Schweiß und Tränen
viel schmucker wirkte als ich.
Unmittelbar neben diesem Foto klebte ein weiterer Schnappschuss
von ihm im Album. Darauf war er zu sehen, wie er gemeinsam mit
seinen Marinekameraden beim Eisklettern an der Nordwand des Ben
Nevis in Westschottland war, und das im Winter - eine extrem gefährliche Wand, denn falls irgendetwas schiefläuft, sitzt man gewaltig
in der Klemme.
Ich wollte von ihm wissen, wie diese Klettertour gelaufen ist und
er erzählte mir, dass ein Steinschlag ihn an diesem Tag um Haaresbreite das Leben gekostet hätte, weil sich etwa 60 Meter über ihm ein
Gesteinsbrocken in der Größe eines Basketballs gelöst hatte.
Dieser war weniger als 30 Zentimeter an seinem Kopf vorbeigesaust und auf einem Felsvorsprung unter ihm in Tausende winzig
kleine Stücke zerborsten.
Für ihn war es ein Gefühl, als hätte er an jenem Tag seine „Du
kommst aus dem Gefängnis frei"-Karte bekommen, denn in jenem
Moment hatte er nicht nur extrem großes Glück, sondern auch einen
sehr wachsamen Schutzengel. Er hat immer zu mir gesagt: „Verlass
Dich bloß niemals blind auf das Glück, denn solche Glücksfälle sind
ein Geschenk; stattdessen solltest Du stets dafür sorgen, dass Du für
den Notfall einen Plan B parat hast."
Diese Einstellung kommt mir in meinem heutigen Job sehr zugute. Danke für diesen Rat, Paps, für den Fall, dass Du dies vom Jenseits
aus lesen kannst.
Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich die gemeinsamen
Ausflüge mit meinem Vater sehr genossen.
Wenn ich heute zurückblicke, dann begreife ich, wie sehr mein
Vater durch unsere gemeinsamen Abenteuer auch ein Stück weit seine
eigene Freiheit gefunden hat - ganz gleich, ob er mich auf der Isle of
Wight bei einem Ausritt am Strand im gestreckten Galopp abgehängt
hat oder ob wir an den steilen Abhängen und Klippen entlang der
zerklüfteten Küste herumgeklettert sind.
Während dieser gemeinsamen Unternehmungen habe ich eine
sehr innige Vertrautheit zwischen uns gespürt.
Außerdem habe ich bei unseren Streifzügen auch jenes Gefühl
„innerer Anspannung" kennengelernt, das sich ganz tief in der Magengrube bemerkbar macht - es ist ein Warnsignal, auf das man im
Leben unbedingt hören sollte. Manche nennen es Angst.
Ich weiß noch gut, wie viel Spaß wir hatten, wenn wir im Winter
gemeinsam auf Klettertour gingen. Das war immer sehr aufregend,
denn ziemlich oft entpuppten sich unsere Kletterausflüge als regelrechtes Abenteuer. Zum Beispiel erklärte mein Vater mir dann, dass
wir nicht nur eine gut 45 Meter hohe steile Kreideklippe erklimmen
müssten, sondern dass deutsche Fallschirmjäger bereits das Plateau
über uns eingenommen hätten. Deshalb müssten wir beim Hochklettern ganz leise sein, um nicht entdeckt zu werden, damit wir die deut sehe Stellung mit Handgranaten zerstören könnten, sobald wir oben
angekommen wären.
In der Realität bedeutete dies jedoch, dass wir - oben auf dem Plateau angekommen - eine verlassene Bank am Rand der Klippe in hohem Bogen mit jeder Menge Kuhfladen bewarfen. Genial!
Das ist doch eine echt prima Idee, wie man sich als Achtjähriger
(und übrigens auch 28-Jähriger) an einem nassen und windigen Wintertag die Zeit vertreiben kann.
Ich genoss es regelrecht, wenn ich völlig außer Atem und von oben
bis unten mit Schlamm eingesaut von unseren, zum Teil mit ziemlich
schlotternden Knien, bestandenen Kletterabenteuern an den Klippen
wieder nach Hause zurückkam. Ich mochte dieses Gefühl, wenn
Wind und Regen in mein Gesicht peitschten. Dann fühlte ich mich
wie ein richtiger Mann, auch wenn ich in Wirklichkeit noch ein kleiner Junge war.
Damals haben wir auch oft vom Mount Everest gesprochen, wenn
wir quer über die Felder zu den Klippen gewandert sind. Ich habe mir
dann gern vorgestellt, dass der eine oder andere unserer Kletterausflüge uns hinauf zur Gipfelpyramide des Mount Everest führt.
Wir haben uns dann immer ganz vorsichtig über die weißen Kreidefelsen bewegt und uns vorgestellt, dass sie tatsächlich aus Eis wären.
Ich habe damals dieses unerschütterliche Vertrauen gespürt, dass ich
mit meinem Vater an meiner Seite sogar den Everest besteigen könnte.
Damals hatte ich ja noch keine Vorstellung davon, was wirklich
erforderlich ist, um den Mount Everest zu besteigen, aber es gefiel mir
einfach, zusammen mit meinem Vater davon zu träumen.
Die gemeinsamen Stunden, in denen wir von diesem Abenteuer geträumt haben, hatten für mich etwas
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