Schlamm, Schweiß und Tränen
klar, dass
wir uns verfahren hatten. (Oder dass wir kurzfristig ein Orientierungsproblem hatten, wie ich es heute gern nenne.)
Mein Vater und ich machten denselben Fehler, den viele in so einer Situation machen: Im Blindflug weiterfahren, und zwar in der
vergeblichen Hoffnung, dass ein Wunder geschehen wird. Wir hatten
weder Karte noch Kompass, weder etwas zu essen noch etwas zu trinken, kein Mobiltelefon (die waren damals noch nicht mal erfunden)
und - um ehrlich zu sein - erst recht keinen blassen Schimmer, wie
wir da wieder herauskommen sollten.
Wir hatten perfekte Voraussetzungen geschaffen, um geradewegs
in die Katastrophe zu schlittern.
Einem kleinen Jungen, der erschöpft, durchgefroren und durchnässt ist, fällt es schwer, sich durch tiefen Schnee zu kämpfen. Die
Minuten fühlten sich an wie Stunden und diese Stunden summierten
sich und kamen mir vor wie eine Ewigkeit.
Schon bald wurde es dunkel.
Wir stapften weiter, mein Vater war sehr besorgt, das konnte ich
spüren. Er kannte sich in den Bergen zwar gut aus, aber er war ja auch
nicht davon ausgegangen, dass wir etwas anderes machen würden, als
ein paarmal ganz gemütlich die Pisten hinunterzufahren. Diese Situation hatte er nicht vorausgesehen. Das war ein Fehler und er gestand ihn ein. Wir schleppten uns weiter bergab; es dauerte nicht lange und
um uns herum war dichter Wald und noch tieferer Schnee.
Dann gabelte sich auf einmal der Weg in Richtung Tal. Sollten
wir den linken Weg nehmen oder den rechten? Mein Vater entschied
sich für den linken. Doch mein Bauchgefühl sagte mir ganz deutlich,
dass wir den rechten Weg nehmen mussten. Paps bestand auf links.
Ich bestand auf rechts.
Die Chancen standen fifty-fifty und er gab nach.
Nach nur knapp 200 Metern stießen wir auf eine Reifenspur im
Schnee, die durch den Wald führte und der wir dann aufgeregt folgten. Nach gut eineinhalb Kilometern kamen wir an eine Bergstraße
und nach nur zehn Minuten konnten wir ein Auto anhalten, das in
der Dunkelheit bergauf fuhr und uns mitnahm.
Wir waren gerettet und ich war völlig erledigt.
Der Fahrer setzte uns eine halbe Stunde später vor dem Kasernentor ab. Mittlerweile war es mitten in der Nacht, doch ich war mit einem Schlag hellwach, voller Tatendrang und total aufgekratzt.
Die Müdigkeit war verflogen. Mein Vater wusste, dass ich dort
oben die richtige Entscheidung getroffen hatte - denn wenn wir nach
links gegangen wären, würden wir wohl noch immer im Nirgendwo
herumstapfen.
Ich war wahnsinnig stolz.
In Wirklichkeit war es vermutlich nur reine Glückssache, doch in
dieser Nacht habe ich eine weitere sehr wichtige Lektion gelernt: Hör
auf Deine innere Stimme aus dem Unterbewusstsein. Dieses Bauchgefühl sagt Dir instinktiv, was Du tun musst.
Als wir dann schweren Schrittes durch das Kasernengebäude gestapft sind, fiel uns auf, dass angesichts der recht frühen Morgenstunde
für einen Wochentag doch eine außergewöhnlich betriebsame Hektik
herrschte. Es stellte sich sehr schnell heraus, warum das so war.
Zuerst erschien ein Feldwebel, dicht gefolgt von einem Soldaten,
die beide gekommen waren, um uns in den Wohnblock der Stabsoffiziere zu geleiten.
Dort stand mein Onkel in seiner Uniform und sah nicht nur sehr
müde, sondern auch sehr besorgt aus. Ich verzog meine Mundwinkel zu einem breiten Lächeln. Mein Vater auch. Nun ja, ich war doch so
aufgekratzt. Immerhin hatten wir uns in den Bergen verirrt und waren einem langsamen, aber sicheren Tod durch Erfrieren entkommen.
Wir waren am Leben.
Allerdings wurde unsere Begeisterung darüber durch die unvergesslichen Worten meines Onkels, des Brigadegenerals, jäh gedämpft:
„Ich an Eurer Stelle würde mir das Lachen verkneifen ... Das komplette Bergrettungsteam der Armee ist nämlich im Augenblick dabei,
die Berge nach Euch abzusuchen, und zwar zu Fuß und in der Luft
mit dem Such- und Rettungshubschrauber. Ich hoffe, Ihr habt eine
gute Erklärung dafür", fuhr er fort.
Die hatten wir natürlich nicht, mit Ausnahme der Tatsache, dass
wir leichtsinnig waren und großes Glück hatten - aber so ist das eben
manchmal im Leben. Und der Satz: „Ich an Eurer Stelle würde mir
das Lachen verkneifen." ist in der Familie Grylls seither zum geflügelten Wort geworden.
Das Waren ein paar wenige Beispiele von den vielen schönen Erlebnissen aus meiner Kindheit. Doch das Leben besteht nicht
nur aus Vergnügen - und damit habe ich eine wunderbare Überleitung
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