Schlangenblut (German Edition)
Schwindelanfall vorüber war, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und tastete sich die Stange hoch. Sie fand kein Ende. Dann versuchte sie, dem Drahtseil zu folgen, konnte aber nicht gehen. Die Dunkelheit war so undurchdringlich und verwirrend, dass sie ohne den Halt, den die Stange ihr gegeben hatte, zu Boden stürzte. Sie sah nicht einmal die Hand vor dem Gesicht.
Blind, sie war blind – aber nein, es war einfach nur dunkel. Ein Keller – aber auch Keller hatten Fenster, und auch in Kellern gab es Laute: Wasserrohre und Heizkessel und Geräusche von außen. Na schön, dann eben kein Keller. Ein schalldichter Raum ohne Fenster. Wie ein Gewölbe.
Erschaudernd hielt sie sich wieder an der Stange fest. Oder wie ein Sarg.
Und wenn auch keine Luft reinkam? Vielleicht verbrauchte sie mit ihrem Geschrei und Herumgekrabbel gerade die letzten Sauerstoffreste, statt sie lieber zu sparen.
Was soll’s?, hallte eine ferne Stimme durch ihr Gehirn. Wenn sie sterben musste, starb sie eben. Aber noch war es nicht so weit, warum also aufgeben? Vielleicht war Bobby ja gleich neben ihr gefangen, und sie war seine einzige Hoffnung?
Der Gedanke machte ihr Mut, und so ließ sie sich auf Hände und Knie sinken und kroch so weit, wie das Drahtseil es zuließ, um die Ausmaße ihres Gefängnisses abschätzen zu können. Sie schätzte es in alle Richtungen auf zwei bis drei Meter, und die Stange befand sich genau in der Mitte.
War sie in einer Art Lagerraum? Oder unter der Erde in einem alten Bergwerksschacht? Oder in einem ehemaligen Swimmingpool, der zugemauert worden war, oder in einem geheimen Labor der Regierung wie in diesem Horrorfilm … Bereits am Rande der Hysterie, tastete sie sich weiter vor. Keine Spur von Bobby oder irgendeinem anderen Lebewesen. Ihre Hand berührte etwas aus Plastik. Einen Eimer Wasser, den sie fast umgestoßen hätte. Keine Tasse, kein Schöpflöffel. Sie tauchte das Gesicht ein und schlürfte gierig das lauwarme, abgestandene Wasser. Sie konnte sich nicht erinnern, je so durstig gewesen zu sein.
Neben dem Eimer stieß sie auf einen Toilettenstuhl – sie kannte solche Dinger von dem Pflegeheim, in dem sie im Vorjahr Weihnachtslieder gesungen hatte. Besser, als in die Hose zu machen. Als sie ihre Blase geleert hatte, lehnte sie sich wieder mit dem Rücken an die Stange, den neuen Mittelpunkt ihres Universums, die Knie an die Brust gezogen und die Arme um die Beine geschlungen.
Fast hatte sie sich schon an den Gestank gewöhnt, zumindest ertrug sie ihn, solange sie nicht vergaß, durch den Mund zu atmen. Nun aber, da sie Zeit zum Nachdenken hatte, fiel ihr wieder ein, woher sie den Gestank kannte.
Es roch wie ein totgefahrenes Tier.
***
Burroughs führte Gerald Yeager die Treppe hinab und hinaus auf die Veranda. Diesen Herrn schaffte man wohl am besten so weit wie möglich von seiner errötenden Exfrau weg. Er überließ Yeager den Sitzplatz im Schatten, weil er dort seine Augen besser sehen konnte, ohne dass das Sonnenlicht den Mann zum Blinzeln brachte.
Nicht dass er im Verdacht gestanden hätte, am Verschwinden seiner Tochter beteiligt zu sein. Nein, natürlich nicht. Dies war nur ein höflicher Austausch von Informationen. Ein lockeres Gespräch unter Männern. Während die Tochter des einen womöglich schon in einem flachen Grab verweste.
Er konnte nur hoffen, dass dem nicht so war. Das letzte Opfer, das er gefunden hatte, war bereits voller Maden gewesen.
Er wollte an diesem Tag keine Kinderleiche sehen und bedauerte schon, den Wochenenddienst mit Jimmy Dolan getauscht zu haben; aber Dolan hatte ein Familientreffen, und Burroughs’ Kinder – nun, im Augenblick war er nicht gerade ein Kandidat für den Vater des Jahres.
Er hatte die Kinder den ganzen Sommer über kaum gesehen, sich mit Arbeitsüberlastung herausgeredet und seiner Exfrau die Kinder selbst an denjenigen Wochenenden überlassen, die sie eigentlich mit ihm hätten verbringen sollen. Dabei liebte er seine Kinder wirklich, aber ihm fehlten einfach die Voraussetzungen zum Vollzeitvater. Oder, wie seine Ex meinte, zum Vollzeitgatten.
Kim hatte leider recht. In beiden Punkten.
Was war nur los mit ihm? Das fragte er sich jetzt schon seit fast zwei Jahren, aber irgendwie fand er nie die nötige Energie, um diese Frage zu beantworten.
Ashley Yeagers Zimmer war Burroughs völlig normal vorgekommen. Die nackten Wände, das Beige, Möbel und Bettwäsche aus Massenproduktion – all das hätte auch aus seiner eigenen Wohnung
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