Schlangenblut (German Edition)
dass Tardiff scharf auf kleine Mädchen war, durchlebte Melissa gerade den schlimmsten Alptraum, den eine Mutter durchleben konnte. Das, woran man niemals auch nur zu denken wagte – aus Angst, dann womöglich das Ungeheuer ins eigene Haus einzuladen.
Vielleicht war es das, was Melissa verdrängte. Es zugelassen zu haben, dass das Ungeheuer ihr einziges Kind rauben konnte.
»Was fehlt?«, fragte Lucy die Eltern, nachdem sie beschlossen hatte, auf Tardiff erst wieder zu sprechen zu kommen, wenn sie mehr Fakten hatte. »Was könnte Ashley mitgenommen haben?«
Melissa suchte das Zimmer mit den Augen ab. Lucy folgte ihrem Blick und erspähte etwas Glänzendes an der Wand. Ein abgerissenes Dreieck aus Klebeband. »Hat dort etwas gehangen?«
Melissa nickte und hielt sich die Hand vor den Mund, als wolle sie einen Aufschrei unterdrücken.
Gerald antwortete an ihrer Stelle. »Was ist mit ihren Bildern passiert? Ashley war künstlerisch sehr begabt, sie hat für ihr Leben gern gezeichnet und gemalt.« Er drängte sich an Melissa vorbei und tigerte im Zimmer auf und ab. »Wo sind sie?«
Melissa schüttelte weiter den Kopf, so schnell, dass Lucy bei ihrem Anblick schwindlig wurde. »Ich weiß es nicht.« Ihre Worte kamen mühsam hervor, wie abgerissen. »Nachdem sie damals von dir zurückgekommen war, waren die Bilder am nächsten Tag alle verschwunden. Ich dachte, sie hätte sie sattgehabt und weggeworfen.«
»Weggeworfen? Das würde Ashley doch nie tun. Hast du sie ihr weggenommen? War das deine Art, sie dafür zu bestrafen, dass sie, als sie weggelaufen ist, zu mir gekommen ist? Du Miststück, dazu hattest du kein Recht!«
»Langsam, Langsam.« Lucy trat zwischen die beiden und musste sich sehr zusammennehmen, um nicht ihre Schädel aneinanderzuschlagen, bis beide bewusstlos zu Boden gingen. »Ashley ist weggelaufen? Wann?«
»Letzten Monat. Wir hatten Streit, und als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, war sie weg.«
»Sie war nicht weg, sie ist zu mir gekommen«, warf Gerald ein. »Außerdem hat sie dir einen Zettel hinterlassen, also dramatisier die Sache nicht so.«
»Dramatisieren? Meine Tochter ist weg, und wer weiß, wo sie jetzt ist. Womöglich ist sie tot, und du wirfst mir vor –«
»Beruhigen Sie sich bitte, alle beide. Diesmal wurde also kein Zettel gefunden, sehe ich das richtig? Keine Nachricht?« Beide Eltern schüttelten den Kopf. »Also gut. Dann sehen wir doch mal nach, was fehlt.«
Lucy öffnete die Schranktür. Es war, als fiele sie in den Reisekoffer eines Models. Auf dem Regal standen reihenweise Schachteln mit Designerschuhen und -handtaschen, allesamt mit farbenprächtigen, stilvollen Etiketten. Auf den Bügeln hingen bunte Kleider, liebevoll geschützt in transparenten Plastikbeuteln, die mit Fotos von Melissa auf dem Laufsteg versehen waren. Auf der Innenseite der Tür hing ein Seidenstoff mit kleinen eingenähten Taschen, in denen jeweils Schmuckstücke steckten.
»Das sind nicht Ashleys Sachen«, erklärte Melissa. »Mein Schrank war voll, und da Ashley sich sowieso geweigert hat, ihre Sachen aufzuhängen, habe ich ihren mitbenutzt.«
Lucy blinzelte. Ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich bereits Sorgen um sein Aussehen machte und Tag für Tag mit den Laufsteg-Erfolgen seiner Barbie-Mutter konfrontiert wurde. Eine ebenso grausame wie ungewöhnliche Strafe.
Dann schaute sie noch einmal genauer hin. Mehrere Outfits hingen nicht in den durchsichtigen Beuteln mit den dazugehörigen Fotos. »Hat Ashley die jemals getragen?«
»Vielleicht anprobiert, aber sie hätten ihr sowieso nicht gepasst. Nicht bei ihrer Figur.« Ihr Ton klang, als wäre Ashley eine Kandidatin für eine Magenverkleinerung.
»Und was ist mit den Schuhen?« Eine dünne Staubschicht bedeckte die Schuhschachteln, aber mehrere der Schmucktäschchen waren leer.
»Niemals. Ich habe Schuhgröße sechs, Ashley jetzt schon acht.«
Lucy schlug ein wenig zu heftig die Schranktür zu und nutzte die Gelegenheit, ihre Verärgerung in den Griff zu bekommen, bevor sie sich wieder zu den Eltern umdrehte. »Wo waren Ashleys Klamotten?«
»Den ganzen Sommer lang hat sie darauf bestanden, immer wieder dasselbe zu tragen. Schwarze Jeans, zwei Nummern zu groß, ein schlabbriges schwarzes Sweatshirt und darunter ein Tanktop. Und diese hässlichen klobigen Schuhe, die du ihr gekauft hast.«
»Dansko, sie heißen Dansko«, warf Gerald ein.
»Egal. Gewaschen hat sie das Zeug selber, also habe ich ihr gesagt, solange die
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