Schlangenhaus - Thriller
wegzulocken.«
»Oh.«
»Glauben Sie mir, Clara, wenn man so aussieht wie ich, kriegt man nicht mal ’ne Nagelschere durch den Zoll, geschweige denn eine hochgiftige Schlange. Männer mit langen Haaren und mit meinen Klamotten werden auf jeder Reise angehalten und durchsucht. Bei der Filmcrew ist das ein Dauerwitz; die planen immer extra Zeit dafür ein, mich durch die Flughafenkontrolle zu bekommen.«
Wieder hob er die Flasche an die Lippen, ohne den Blick
von meinen Augen abzuwenden. Die Polizei würde das, was er ihnen erzählt hatte, nachprüfen können, würde mit seinem Regisseur sprechen, herausfinden, ob dieser Rivale auf dem Gebiet der Herpetologie tatsächlich existierte. Ich hatte das nicht nötig. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte.
»Was zu trinken?«, wiederholte er.
Ich dachte darüber nach. Aber nur ganz kurz. »Ja, bitte.«
Er stand auf, bedeutete mir mit einer Geste, Platz zu nehmen, und verschwand im Haus. Ein Licht ging an, und durch die halb offene Hintertür konnte ich eine sehr kleine, ordentliche Küche sehen. Ich drehte mich um und schaute übers Meer, während ich hörte, wie die Kühlschranktür aufging und wieder geschlossen wurde. Möwen flogen aufs Meer hinaus und warfen im Vorüberfliegen dunkle Schatten auf den Rasen.
Die Luft war kühl nach der Hitze des Tages, und es war sehr still. Ich hörte, wie Sean zurückkam und sich setzte. Er hielt mir ein Glas hin und reichte mir eine Flasche mit bernsteinfarbener Flüssigkeit. Ich stellte das Glas hin und trank aus der Flasche, wie ich es bei ihm gesehen hatte. Der herbe, beinahe dünne Geschmack überraschte mich. Irgendwie hatte ich mit etwas Schwererem, Stärkerem gerechnet.
»Ich hab Wein im Kühlschrank, wenn Ihnen das lieber ist«, meinte Sean.
»Das hier ist okay. Schmeckt gut«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Dann fügte ich hinzu. »Mein erster Drink.«
»An diesem Abend?« Sean hatte seinen Stuhl verrückt, so dass er mir direkt gegenübersaß. Ich fuhr fort, den dunklen Himmel zu beobachten, obwohl die Möwen verschwunden waren.
»In meinem Leben«, antwortete ich.
Sean blieb stumm, doch als ich mich zu ihm umdrehte, betrachtete er mich unverwandt. »Meine Mutter hat getrunken«, sagte ich. »Jahrelang, schon vor meiner Geburt. Sie hat ihre Karriere als Berufsmusikerin aufgegeben, um einen Landpfarrer
zu heiraten, der zwanzig Jahre älter war als sie. Und dann hat sie festgestellt, dass sie mit dem Kirchenleben nicht zurechtkam.«
Noch immer sagte Sean nichts, doch er wandte den Blick nicht von meinem Gesicht ab. Es musste an der immer tieferen Dunkelheit liegen, dass es mir nichts mehr ausmachte.
»Sie hat sich große Mühe gegeben«, sagte ich; ich wollte Mum gegenüber fair sein. »Sie war in Behandlung, war jahrelang immer wieder in irgendwelchen Kliniken. Manchmal hat sie monatelang nichts getrunken, aber früher oder später war das Verlangen dann einfach zu groß.«
Seans Hand legte sich über die meine, und ich fuhr bei der Plötzlichkeit seiner Berührung zusammen. »Es wird kalt«, interpretierte er mein Schaudern falsch. »Wir sollten reingehen.«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, beteuerte ich rasch. »Ich muss gleich wieder los. Ich wollte Sie nur etwas fragen.«
Anscheinend widerwillig löste er seine Hand von meiner. »Schießen Sie los.«
Ich erläuterte meine Theorie, dass ein amerikanischer Prediger Ende der Fünfzigerjahre in der Kirche meines Dorfes snake handling praktiziert hatte und dass dabei eines Abends irgendetwas gewaltig schiefgegangen war, was zur Zerstörung der Kirche und zum Tod von vier Männern geführt hatte.
»Ich weiß, das ist weit hergeholt«, sagte ich, »aber ich glaube, das, was in letzter Zeit passiert ist, steht vielleicht irgendwie damit in Verbindung. Es sind die alten Leute, diejenigen, die 1958 auch schon hier waren, gegen die sich das alles zu richten scheint.«
»Meinen Sie, Sie können auf die Weise vielleicht herausbekommen, wer jetzt für das Ganze verantwortlich ist?«
»Ich habe mal eine Dokumentation von Ihnen über das snake handling gesehen«, meinte ich. »Und ich habe überlegt, ob Sie vielleicht noch mehr darüber wissen.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Na, zum einen, wie die das machen. Wie können diese Leute Klapperschlangen anfassen, ohne dass ständig jemand gebissen wird?«
»Sie werden doch gebissen. Todesfälle sind ziemlich häufig.«
»Ja, aber nicht so häufig, wie man erwarten sollte. Und es gibt alle möglichen
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