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Schlangenhaus - Thriller

Schlangenhaus - Thriller

Titel: Schlangenhaus - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Fenster offen, und seine nächsten Worte waren nicht zu überhören.
    »Das Angebot steht übrigens immer noch.«

    »Welches?«, fragte ich, ohne zu überlegen. »Der Job oder…«
    Seans Brauen furchten sich, doch seine Lippen lächelten. »Ich glaube, Sie flirten mit mir, Miss Benning. Also, das ist definitiv ein Fortschritt.« Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zum Haus. »Beide«, rief er über die Schulter zurück. »Beide Angebote stehen auf unbegrenzte Zeit.«

    Ich fuhr beinahe eine Stunde und bog dann in einen Feldweg ein, wo ich bestimmt nicht gestört werden würde. Dann kletterte ich auf den Rücksitz und zog meinen Mantel um mich. Ich lag da, lauschte den Geräuschen der Nacht und dachte nicht an Schlangen oder Gespenster, sondern an etwas, das ich ganz hinten in meinem Gedächtnis verstaut hatte. Etwas, das vor fast siebzehn Jahren passiert war.
    Ich war damals auf dem Gymnasium und kam gerade aus einer Kabine in der Mädchentoilette, als ich mich sechs älteren Jungen gegenübersah, die auf mich warteten. Sie hielten einen Zwölfjährigen fest, der sich wie wild wehrte. Tränen strömten ihm übers Gesicht. Als drei der Jungen auf mich zukamen, sah ich, dass eines der Mädchen aus meiner Klasse an der Tür Wache hielt. Ein anderes Mädchen, das ich kannte, kam aus einer Kabine, sah, was los war, schlug die Augen nieder und huschte eilig hinaus. Die Jungen zerrten mich an die Wand.
    »Komm schon, küss sie, und wir lassen dich in Ruhe«, drängte einer.
    Der Junge, so klein und schwach er auch war, musste von vier Älteren nahe genug an mich herangezerrt werden. Selbst dann musste ihn noch einer am Kopf packen und sein tränen- und rotznasses Gesicht gegen meins drücken. Mein Kopf wurde eisern festgehalten, starke Hände krallten sich in mein Haar. Ich hatte mich nicht gewehrt, es hatte keinen Sinn gehabt. Ich hatte die Augen geschlossen und war weggegangen, woandershin. Als ich sie wieder öffnete, war die Toilette leer. Ich wusch mir das Gesicht und ging zurück in meine Klasse.

    Während der ganzen Zeit, die ich auf diese Schule ging, sah der Zwölfjährige mich nie wieder an. Und ebenso wenig einer von den anderen, die genauso behandelt wurden. Ironischerweise konnte ich nicht behaupten, dass ich in der Schule gequält worden wäre; ich war die Qual, die anderen zugefügt wurde.
    Jahrelang ging das so, und ich erzählte niemals auch nur einer Menschenseele davon. Doch bis heute brauche ich nur das Wort »Kuss« zu hören, damit diese widerliche Erinnerung schlagartig zurückkehrt, und alle, die darauf folgten. Weder im richtigen Leben noch im Fernsehen kann ich zusehen, wie sich Menschen küssen. Ich bringe es sogar kaum über mich, das Wort in einem Buch zu lesen, denn wenn diese Erinnerungen anfangen, an die Kellertür zu hämmern, dann möchte sich mein ganzer Körper vor Scham krümmen.
    Die Augen fielen mir zu und die Sterne verschwammen. Während ich in den Schlaf davontrieb, erinnerte ich mich, doch ich war nicht mehr in der Mädchentoilette, ich war wieder in dem Haus auf dem Undercliff. Mein Kopf war vom Rauschen der Wellen erfüllt, die sich an den Felsen brachen, die raue Haut eines Männergesichts schmiegte sich an meine, und die Bitterkeit von siebzehn Jahren verblasste.
    Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Zeit, den Mann zu besuchen, den wir alle für tot gehalten hatten.

40
    Auf ein weiteres deprimierendes Altenheim mit fragwürdigen Hygienestandards und einer Atmosphäre gefasst, die einem sämtliche Lebensgeister aussaugte, war ich angenehm überrascht, als ich das Paddocks Hospiz zum ersten Mal erblickte. Es stand hoch oben auf den Hügeln oberhalb eines Flusstals.
    Kurz bevor ich in die Einfahrt einbog, kam ich an einem Gestüt vorbei, und als ich ausstieg, sah ich, dass das Gelände um das Hospiz herum eingezäunt worden war und als Weide genutzt wurde. Vier Pferde grasten auf der Wiese direkt unterhalb des Gartens. Drei weitere standen auf der Koppel zu meiner Rechten. Eine zierliche Schimmelstute, die nur noch ein Horn gebraucht hätte, um ein vollendetes mystisches Einhorn abzugeben, kam im leichten Galopp auf mich zu. Die anderen Pferde schlossen sich ihr an, und als sie näher kamen, konnte ich fühlen, wie der Boden unter ihrem Gewicht bebte.
    Ich ging zum Haupteingang. Ein paar Patienten saßen auf der Terrasse, sahen den Pferden zu und genossen den Morgen, der sich vor ihnen entfaltete.
    Ich zog die große Doppeltür auf und trat

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