Schlangenhaus - Thriller
»Letzten November.«
»Ich weiß, es tut mir sehr leid.« Ich bemühte mich, meine Wut auf Edeline zu verdrängen, mich genau daran zu erinnern, was sie zu mir gesagt hatte. Hatte sie wirklich das Wort »Tod« gebraucht? Hatten wir alle da etwas völlig falsch verstanden?
»Vor ein paar Tagen habe ich auf dem Friedhof ihr Grab gesehen«, sagte ich in einem plötzlichen Aufwallen von Reue, weil ich Edeline vielleicht falsch eingeschätzt hatte. »Möchten Sie, dass ich für Sie dort ein paar Blumen hinlege? Ich weiß noch, sie hat mir erzählt, sie hätte ein paar Rosen aus dem Garten in ihrem Brautstrauß gehabt. Das würde ihr gefallen, meinen Sie nicht? Oder ich könnte auch welche kaufen – ganz wie Sie…«
Walter nickte mir zu. »Rote«, sagte er. »Von denen bei den Obstbäumen. Rot hat sie immer gemocht. So hübsch mit ihren dunklen Haaren.«
Die Edeline, an die ich mich erinnerte, hatte stahlgraues Haar, doch ich lächelte und pflichtete ihm bei, ja, das hätte bestimmt wirklich toll ausgesehen.
»Sie war eine sehr schöne Frau, als ich sie geheiratet habe«, sagte Walter, der abermals zu erraten schien, was ich dachte. »Das hübscheste Mädchen weit und breit. War Archie sehr ähnlich. Beide groß, jede Menge dunkles Haar, dunkelbraune Augen. Die beiden haben in der Familie die Gene für gutes Aussehen abgekriegt.«
Aber Edeline und Archie waren doch nur angeheiratete Verwandte gewesen, oder? Wie konnten sie da gemeinsame Gene haben? Walter musste meine Verwirrung bemerkt haben.
»Edeline war unsere Cousine. Wussten Sie das?«
Ich schüttelte den Kopf. Das hatte ich nicht gewusst.
»Unsere Cousine ersten Grades. Ihre Mutter und unser Dad waren Bruder und Schwester. Manche Leute haben gesagt, deswegen sollten wir nicht heiraten, aber damals kam das ziemlich oft vor. Wir sind ja nicht so rumgekommen wie die jungen Leute von heute. Konnten nicht so viele Menschen kennenlernen.«
»Ich verstehe«, beteuerte ich. »Heutzutage heiraten Cousins und Cousinen immer noch.«
»Ich hab nur daran gedacht, wie hübsch sie war. Und wie ich sie dazu bringe, mich zu heiraten, und nicht Archie oder einen von den anderen, die hinter ihr her waren.«
Während Walter sprach, verdunkelte sich etwas in seinem Gesicht. Er sah mich nicht mehr an, sondern schaute zum offenen Fenster hinüber.
»Aber ich glaube, die Leute hatten wahrscheinlich recht«, fuhr er fort. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Alte Gedanken, und keine erfreulichen. Dann sah er mich abermals an. »Wir haben nie Kinder bekommen, also war es vielleicht…«
Er ließ den Gedanken unvollendet in der Luft hängen. Ich wartete, für den Fall, dass er weitersprechen wollte, doch er schien zufrieden damit, meine Hand zu halten und aus dem Fenster zu starren. Nach einer Weile glaubte ich, gefahrlos eine Frage stellen zu können.
»Walter, hatte einer von Ihren Brüdern Kinder? Haben Sie Nichten oder Neffen?« Ich war mir nicht ganz sicher, worauf ich damit hinauswollte. Noch immer glaubte ich, dass der Einbrecher, den ich gesehen hatte, alt gewesen war und nicht in mittleren Jahren. Was jedoch seine Ähnlichkeit mit Walter betraf, da war ich mir sicher. Irgendwie musste ich dieser Geschichte auf den Grund gehen.
»Saul und Alice hatten einen Sohn«, antwortete Walter. »Sie sind weggezogen, wissen Sie, nach all dem … nach dem, was passiert ist.«
»Es ist etwas passiert?«, hakte ich nach und wagte kaum zu hoffen, aber Walter schüttelte den Kopf.
»Das ist lange her, Liebes. Harry, Saul und Archie, alle weg. Das war keine gute Zeit.« Er sah mich wieder an, und ich wusste mit absoluter Gewissheit, dass er mir noch mehr sagen konnte. Und dass er das niemals tun würde.
»Was ist aus Sauls Sohn geworden?«, erkundigte ich mich. Matt zufolge hatte Saul zehn Jahre, nachdem er aus dem Dorf geflohen war, Alice ermordet und war zu lebenslänglich verurteilt worden. Ihr Neunjähriger war ganz allein geblieben.
»Sozialarbeiter sind zu uns gekommen, nachdem seine Mutter gestorben war. Wollten, dass wir ihn aufnehmen. Haben gesagt, wir wären seine einzigen Verwandten.«
Ich hörte zu, hielt noch immer Walters Hand und versuchte, ihn mit reiner Willenskraft dazu zu bringen, weiterzusprechen.
»Ich musste Nein sagen. Edeline war damals… Sie war nicht in der richtigen Verfassung. Wir hätten nicht für den Jungen sorgen können. Er ist in ein Waisenhaus gekommen … nein … ein Kinderheim, so haben sie es genannt, aber das ist wohl
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