Schlangenkopf
Schulatlas. »Nicht zufällig habe ich hier la douce France aufgeschlagen. Im Frühling müsste die Côte d’Azur besonders schön sein.« Er horcht auf. Im Radio hat wieder Wanda das Wort.
»Na, Ihr Süßen, wir haben heute unsere geheimnisvolle, unsere romantische Nacht auf Radio Fünf Neunundsechzig, nach der grünäugigen Barbara kommt jetzt Jörg, und auch Jörg hat ein besonderes Anliegen …«
Der Bilch und André wechseln einen kurzen Blick, und der Bilch stellt das Radio wieder lauter. Eine angenehme und kultivierte Männerstimme erfüllt den Raum und sagt, wie sehr er sich freue, endlich einmal mit Wanda zu sprechen. Er habe auch einen Wunsch, sagt der Mann, der sich Jörg nennen lässt:
»Gerne würde ich wieder einmal Sandie Shaw hören mit Like a puppet on a string , und ich möchte damit Gaspara grüßen, die eine sehr schöne und begehrenswerte Frau ist und die – wenn sie diesen Song hört – weiß, dass sie mich hier in Berlin anrufen kann.«
»Gaspara!«, echot Wanda Kuhlebrock, »ich bin hin und weg, erst eine grünäugige Barbara, jetzt eine Gaspara, die Nacht der Frauen mit den vielen Aaaahs! Aber jetzt erst einmal Sandie Shaw und eine Erinnerung an den European Song Contest 1972! Ach, ihr Süßen, das waren noch Zeiten!«
Samstag
N ein«, sagt der Oberarzt Dr. Wolfgang Venske und versucht, weiter mit einem freundlichen Blick die Kamera im Auge zu behalten, »es geht hier nicht um Privilegien des ärztlichen und pflegerischen Personals, die gibt es nämlich nicht, und es geht auch nicht um einen Tarifstreit, der auf dem Rücken der Patienten ausgetragen würde – sondern wir wehren uns ganz im Gegenteil dagegen, dass der Senat den Haushalt des Landes Berlin saniert zu Lasten dieser Patienten und zu Lasten des ärztlichen und des pflegerischen Personals.«
Schließlich ist die Interviewerin zufrieden und nickt erst Venske und dann ihrem Kameramann zu. Auch Venske bedankt sich und steigt die Treppenstufen zur Klinik hoch, vor deren von Efeu umrankten Haupteingang das Interview aufgenommen worden ist. Oben tritt ein Mann auf ihn zu und fragt, ob er ihn kurz sprechen könne? »Berndorf ist mein Name.«
Venske betrachtet den Mann. Das ist eher kein Journalist, denkt er und fragt dann doch, von welcher Zeitung er komme.
»Keine Zeitung, kein Interview«, stellt Berndorf klar. »Ich habe nur eine persönliche Frage. Es geht um den Jungen, den Sie schon länger nicht mehr gesehen haben.«
Während der Oberarzt weitergeht und die Eingangstür passiert, folgt ihm Berndorf wie ein lästiger, aber demütiger Bittsteller. »Sie müssen wissen, dass ich überhaupt keine Zeit habe«, sagt Venske, halb über die Schulter. »Wir stehen vor einem sehr schweren Arbeitskampf. Ich glaube nicht, dass Sie wissen, was das in einem Krankenhaus bedeutet.«
»Ich hätte nicht gewagt, Sie anzusprechen, wenn ich nicht einen absolut zwingenden Grund hätte«, kommt die Antwort. »Der Junge, von dem ich denke, dass Sie wissen, wen ich meine – dieser Junge ist in großer Gefahr. Er hat sich etwas angeeignet, das er auf keinen Fall besitzen sollte.«
»Das klingt ja schwer dramatisch«, meint Dr. Venske, blickt auf seine Uhr und weist auf eine Ecke des Eingangsbereichs, in der sich sonst gerade niemand aufhält. »Aber erklären Sie mir doch, wer Sie sind und wie Sie auf mich kommen.«
Während sie einige wenige Schritte zur Seite gehen, erklärt Berndorf, dass er privater Ermittler sei. »Es hat gestern in der Neurologie im Beisein der Chefärztin Capotta und einer Besucherin ein kurzes Gespräch über jenen Halbwüchsigen gegeben, der in der Boulevardpresse das Phantom genannt wird. Sie waren dabei und sagten, Sie hätten den Jungen hier – also in der Hautklinik – schon lange nicht mehr gesehen.«
»Und was soll das für ein gefährliches Ding sein, das dieser Junge sich angeblich angeeignet hat?«
»Es ist das Notebook eines Politikers«, antwortet Berndorf. »Es enthält möglicherweise Aufzeichnungen über illegale Rüstungsexporte aus Deutschland und über die Zusammenarbeit deutscher Stellen mit einem von Den Haag gesuchten Kriegsverbrecher.«
»Möglicherweise!«, wiederholt Venske und versucht ein kurzes Lachen. »Und möglicherweise auch nicht! Sie hat man also beauftragt, das Notebook zu finden, damit diese staatsgefährdenden Aufzeichnungen um Gottes willen nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen, was? Ich fürchte, Sie haben sich da den falschen Ansprechpartner ausgesucht. Wenn es
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