Schlangenkopf
nur kann er sich im Moment nicht darauf besinnen, wann und wo das war. Offenbar gehören der Mann und der Halbwüchsige irgendwie zusammen, sie gehen die Linienstraße entlang und biegen dann rechts ab in Richtung Rosenthalplatz. Berndorf folgt ihnen bedächtig, aber doch so, dass der Abstand zwischen ihnen nicht allzu groß wird, beim Vorbeigehen wirft er einen Blick auf die Nummer des Hauses, aus dem die beiden gekommen sind.
Es ist die Hausnummer, die für Elke Jakubeit im Telefonbuch eingetragen ist.
Er verwirft den Gedanken, dort auf Verdacht zu klingeln oder sich – wenn sich auf das Klingeln hin nichts rührte – selbst Zutritt zu verschaffen; mit einem handlichen Plastikstreifen, der elastisch und auch wieder hart genug ist, kann das klappen.
Aber er tut es nicht. Was an der Art liegt, wie der dicke Mann und der Junge gehen. Wie sie den Weg unter die Füße genommen haben. Sie haben etwas vor an diesem Samstag, sie schreiten jetzt in die Welt, und die Welt wird sie kennenlernen, aber Hallo! So ungefähr gehen sie, nein: schreiten sie aus.
Berndorf hat inzwischen die Straßenseite gewechselt und kommt so an der Kneipe des Schlangenkopfs vorbei, deren Rollläden noch heruntergelassen sind. Der dicke Mann und der Junge haben jetzt den Eingang zur U-Bahn-Station erreicht und sind auch schon darin verschwunden. Auf Berndorfs Straßenseite gibt es ebenfalls einen Eingang, am Bahnhofskiosk kauft er sich eine Zeitung und steckt sie gleich wieder in die Manteltasche, weil es einfach zu albern ist, sich eine Zeitung vors Gesicht zu halten, wenn man in Wahrheit jemanden beschatten will.
Er vermutet, dass die beiden in Richtung Alexanderplatz fahren wollen, einfach deshalb, weil man in der Gegenrichtung allenfalls nach Reinickendorf kommt, und das ist – denkt Berndorf – irgendwie nicht ganz die Große Weite Welt. Tatsächlich entdeckt er sie auf dem Bahnsteig, der dicke Mann ist offenbar dabei, dem Jungen etwas zu erklären, mit Aplomb tut er das, seine Gesten führen dem Jungen etwas vor Augen, das weit und groß und schön ist, mit keinem Risiko verbunden, mit keinem Ärger und weit erhaben über all die Quengeleien des Alltags.
Und plötzlich weiß er, wo er den dicken Mann schon einmal gesehen hat. Der Dicke stand vor der Tür eines lumpigen, auf teuer frisierten Büros für Finanzberatung und hielt nach Kunden Ausschau, und einen oder zwei Tage später hat die Polizei den Laden hochgehen lassen; in der Zeitung stand ein kurzer Bericht darüber.
Warum lässt dieser Mensch sich hier im Viertel überhaupt noch sehen? Dazu gehört schon mehr Chuzpe, als vernünftig ist. Also muss er einen verdammt guten Grund dafür haben.
A ndré und der Bilch sind bei den Türen stehen geblieben, so dass der Bilch einen Überblick hat, wer in dem Wagen sitzt und wer dazukommt. Die U-Bahn ist nicht sehr voll an diesem Samstagvormittag, der Bilch sieht ein paar ältere Leute, die ihm so vorkommen, als würden sie gleich in den Kaufhäusern am Alex mal so richtig zuschlagen, für zehn Euro fuffzich mindestens. Weiter hinten sitzt ein Mann in einem dunklen Lodenmantel, eine zusammengerollte Zeitung in der Hand. Der Mann scheint zu merken, dass der Bilch ihn mustert, und blickt ihn kurz und gleichgültig an.
Es ist niemand, der ihn kennt, und so wendet sich der Bilch beruhigt ab und André zu. »Übrigens haben wir den Hausverwalter ganz vergessen! Wir hinterlassen der Elke eine Nachricht in der Wohnung, dass sie sich beim Herrn Kroppenschmitt melden soll, und dann kannst du ja den anrufen, ob sie schon zurück ist. Alle paar Tage kannst du das machen. Und wenn sie wieder da ist, schicken wir ihr ein Flugticket, oder du fliegst allein nach Berlin zurück, und dann könnt ihr ja selber entscheiden, ob ihr dort bleiben wollt. Hörst du mir eigentlich zu?«
André steht an die Scheibe gelehnt, die den Einstiegsbereich von den Sitzplätzen trennt, den Kopf noch immer gesenkt. »Die Elke wird ziemlich sauer sein«, antwortet er, ohne aufzublicken, »wenn sie das mitkriegt … ich meine, dass ich mit dir nach Frankreich gehe oder wo du da hinwillst.«
»Die Elke!«, ruft der Bilch. »Wenn die Elke zurückkommt, was glaubst du, was die alles am Hals hat! Da ist die froh, wenn sie sich nicht auch noch mit dem Schulamt herumärgern muss, oder gar dem Jugendamt.«
Die U-Bahn verlangsamt die Fahrt, sie fahren in die Station Alexanderplatz ein, wo sie aussteigen, wie die meisten anderen Passagiere. Unter ihnen ist auch der Mann in
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