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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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impulsiv in die Arme, bevor ich zum Taxi hinauslief. »Stellen Sie ihn lieber nicht auf die Probe«, rief ich ihr zum Abschied warnend zu. »Ich habe das unangenehme Gefühl, dass er Schlimmeres anstellen würde, als einen Unterkiefer zu brechen, wenn er Sie mit einem anderen im Bett fände.«
    Ich sagte es leichthin, aber die Warnung war ernst gemeint.

    * * *

    Brief von Dr. Joseph Elias, Psychiater am Queen Victoria Hospital, Hongkong – aus dem Jahr 1985
    Queen Victoria Hospital,
    Hongkong
    (Psychiatrische Abteilung)
    Mrs. M. Ranelagh
12 Greenough Lane
    Pokfulam, 12. Juni 1985
    Liebe Mrs. Ranelagh,

wie schade, dass Sie Hongkong verlassen. Ich habe Ihre Briefe und die allzu seltenen persönlichen Gespräche mit Ihnen stets geschätzt. Sydney wird Ihnen gefallen. Ich habe zwei Jahre dort gelebt, von 1972 bis 1974, und möchte die Erfahrung nicht missen. Australien besitzt den Schwung und die Kraft, die entstehen, wenn unterschiedliche Kulturen zusammentreffen, und ich denke, gerade Ihnen wird so eine pluralistische Gesellschaft gefallen, wo es keine Klassenunterschiede gibt und Erfolg von Leistung abhängt und nicht von
Etiketten
. Sie sehen, ich habe Sie verstehen gelernt.
    In Ihrem letzten Schreiben erwähnten Sie, dass Sie und Sam sich geeinigt haben, die unschöne Geschichte aus England endgültig zu begraben. Sie berichten mir auch, dass er ein wunderbarer Vater ist. Sie sagen jedoch nicht, dass Sie ihn lieben. Soll ich (wie Sam?) das einfach für selbstverständlich halten? Mein Freund, der Rabbi, würde sagen, dass in einer Wüste nichts gedeiht. Und er würde auch sagen, dass all das, was in England begraben liegt, auferstehen wird, sobald Sie nach Hause zurückkehren. Aber vielleicht entspricht das ja Ihrem Plan? Wenn ja, dann sind Sie eine geduldige Frau, liebe Mrs. Ranelagh, und auch ein wenig grausam, denke ich.
    Mit den besten Wünschen für Ihre Zukunft,
    herzlichst Ihr
    Joseph Elias

19
    Sam saß draußen vor dem Bahnhof im Wagen, als ich endlich abends um zehn wieder in Dorchester ankam. Ich fragte mich, wie lange er schon wartete, denn ich hatte nicht angerufen, um ihm zu sagen, welchen Zug ich nehmen würde, und ich fürchtete, es könnte seiner Stimmung nicht gut getan haben, wenn er schon lange dort draußen stand. Ich hatte eigentlich beabsichtigt, mit einem Taxi nach Hause zu fahren und mich der unvermeidbaren Auseinandersetzung hinter geschlossenen Türen zu stellen; doch so lange schien er, seinem finsteren Gesicht nach zu urteilen, nicht warten zu wollen.
    »Jock hat angerufen«, sagte er kurz.
    »Das dachte ich mir«, murmelte ich, öffnete die hintere Wagentür und warf meinen Rucksack auf den Rücksitz.
    »Er sagte, dass du um vier bei ihm weg bist. Was zum Teufel hast du seitdem getrieben? Warum hast du nicht angerufen? Ich hab mir Riesensorgen gemacht.«
    Ich zeigte meine Überraschung offen. »Aber ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht wüsste, wann ich nach Hause kommen würde.«
    »Ich hab ja nicht mal gewusst, ob du überhaupt nach Hause kommst.« Wütend ging er vorn um den Wagen herum, um mir die Mitfahrertür zu öffnen. Das war so untypisch für ihn, dass ich automatisch zurücktrat, weil ich glaubte, er machte sie für sich selbst auf.
    »Ich schlag dich schon nicht«, fuhr er mich an und packte mich am Arm, um mich in den Wagen zu schieben. »Ich mag ein Schwein sein, aber ein Schläger bin ich nicht.«
    Er schob sich hinter das Steuer, und so saßen wir mehrere Minuten lang schweigend nebeneinander. Die Spannung war spürbar in dem engen Raum, ich hatte allerdings keine Ahnung, ob Sam so geladen war, weil ihn meine Perfidie ärgerte oder weil er sich Sorgen um mich gemacht hatte. Der Bahnhof war um diese Stunde praktisch menschenleer, aber ein, zwei Leute spähten neugierig durch die Autofenster, als sie vorüberkamen, vermutlich verwundert darüber, dass die beiden schattenhaften Gestalten im Wagen so stocksteif dasaßen und einander nicht ansahen.
    »Willst du nicht etwas sagen?«, fragte er schließlich.
    »Was denn?«
    »Wie wär's mit einer Erklärung«, meinte er. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du mit Jock redest, aber nicht mit mir. Warum hast du mir nicht gesagt, dass Annie zusammengeschlagen worden ist? Du weißt, ich hätte reinen Tisch gemacht, wenn ich geahnt hätte, wie ernst das alles war.«
    »Wann?«
    »Was soll das heißen, wann?«
    »Wann hättest du reinen Tisch gemacht?«, fragte ich in ruhigem Ton. »Ich habe dir damals erzählt, was

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