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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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wollte ihnen nur sagen, dass er sie liebt, aber für die hat er gar nicht existiert.«
    Ich war erstaunt. »Aber früher, als Sie noch ein Kind waren, haben Sie ihn doch gehasst.«
    Michael zuckte die Achseln. »Deswegen kann er mir doch trotzdem Leid tun. Mir ist klar geworden, wie eingeschränkt man in seinem Leben ist, wenn man nicht lesen und schreiben kann. Das ist ziemlich erschreckend. Ich meine, man kann sich ja nicht um eine Arbeit bewerben, wenn man nicht mal das Bewerbungsformular unterschreiben kann – und die Leute behandeln einen alle wie den letzten Dreck, wenn sie glauben, dass man von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Ich denke, dass Derek nur deshalb so ein brutaler Schläger geworden ist. Das war doch für ihn die einzige Möglichkeit, sich bei anderen Respekt zu verschaffen – sie zu prügeln und ihnen Angst einzujagen.«
    »Bringt er das als Entschuldigung vor?«
    »Nein. Auf dem Trip ist er nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum er mir Leid tut. Er hat mir ein bisschen was von seiner Kindheit erzählt – er ist im Heim gelandet, weil seine Mutter ihn nicht haben wollte, dann ist er abgehauen und hat sich auf der Straße rumgetrieben, bis er bei einem Ladendiebstahl geschnappt wurde und in der Jugendstrafanstalt landete. Deswegen ist er Analphabet geblieben, er ist nie lang genug zur Schule gegangen, um wenigstens die grundlegenden Dinge zu lernen. Da sieht man mal wieder, wie wichtig Liebe für Kinder ist. Wenn seine Mutter ihn gemocht hätte«, sagte er mit bekümmertem Gesicht, »dann wäre er vielleicht ein ganz ordentlicher Kerl geworden.«
    Ich vermutete, dass er nicht nur von Derek sprach, sondern vor allem von sich selbst. »Jeder muss im Leben einmal mit Zurückweisung fertig werden«, sagte ich.
    »Ja, aber wenn es einem als Kind passiert, ist es schlimmer«, entgegnete er düster. »Da kann doch was bei dir nicht stimmen, wenn nicht mal deine Mutter dich mag.« Er schwieg. »Derek meinte, er hätte Maureen nur geheiratet, weil sie ihn an seine Mutter erinnert hat«, sagte er plötzlich. »Er hat mir ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr gezeigt, die Ähnlichkeit war echt verblüffend. Maureen war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten – spitz und schlitzäugig. Er hat sie Klapperschlange genannt.«
    »Klapperschlange? Warum das denn?«
    »Weil sie falsch war, wie er sagt, und ihm immer in den Rücken gefallen ist. Ich fand das ganz verständlich, bis ich merkte, dass er über alle Frauen so dachte. Das sind doch alles Schlangen, sagte er immer, und Schlangen haben ihre eigenen Merkmale. Wenn man die giftigen nicht erkennt, ist man tot.«
    »Inwiefern ist Maureen ihm in den Rücken gefallen?«
    »Sie hat Alan aufgestachelt, sich mit ihm anzulegen. In dem Haus ist es zugegangen wie in einem Kriegsgebiet – monatelang. Wenn wir unsere Fenster offen hatten, konnten wir hören, wie da drüben die Fetzen flogen – das Gebrüll und die Beschimpfungen, die Schläge, das Krachen, wenn wieder irgendeiner gegen die Wand flog. Wirklich, kaum war Annie tot, da brach da drüben die Hölle los.«
    »Wieso? Was hatte sich denn verändert?«
    Michael schüttelte den Kopf. »Meine Mutter meinte, sie verhielten sich nur, wie es ihrer Art entspreche. Sie seien Schläger, und Schläger bräuchten jemand, auf den sie einschlagen können – als hätten sie auf Annie eingeschlagen, solange die am Leben war, und jetzt, wo sie tot sei, schlügen sie sich eben gegenseitig die Schädel ein.«
    Ich fand diese Argumentation ganz einleuchtend. Die Menschen halten nie so gut zusammen, wie wenn sie einen gemeinsamen Feind haben.
    »Und wie oft landete Maureen im Krankenhaus?«
    »Zwei- oder dreimal. Aber das hatte sie nicht Derek zu verdanken, sondern Alan. Der war überhaupt nicht mehr zu bändigen. Das war ungefähr um die gleiche Zeit, als er Rosie vergewaltigte. Derek hatte ihn in Schach gehalten, solange er konnte, aber als Alan fünfzehn wurde, war er fast einen Kopf größer als sein Vater und doppelt so breit. Derek ist seiner überhaupt nicht mehr Herr geworden.«
    »Wussten seine Eltern, was er Rosie angetan hatte?«
    Michael schüttelte den Kopf. »Das können sie höchstens gewusst haben, wenn Alan es ihnen erzählt hat. Rosie hatte Todesangst, dass ihre Mutter davon erfahren könnte. Sie dachte, es würde sie schneller umbringen als der Krebs. Drum haben wir den Mund gehalten.«
    Wieder versuchte ich, die zeitlichen Zusammenhänge herzustellen. »Und das alles passierte 1979?«
    Er nickte.
    »Und war

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