Schlangenlinien
sie nicht angerührt hat. Aber Sie möchten lieber, dass er's war anstatt Michael, stimmt's? Sie sind genau wie die da.« Sie deutete mit wegwerfender Handbewegung auf Wendy. »Der eine kann kein Wässerchen trüben, und der andere ist der reinste Teufel.«
Die Ellbogen auf die Knie gestützt, beugte Wendy sich vor und musterte Maureen neugierig. »Warum ist es so wichtig, dass Alan nicht dabei war?«, fragte sie.
»Was soll das heißen?«, versetzte Maureen mit drohend gerunzelter Stirn.
»Sie wollen doch unbedingt Sharons Sohn die Schuld in die Schuhe schieben, aber wenn ich richtig verstanden habe, hat
Ihr
Sohn genau das, was Sie Michael Percy vorwerfen, ein paar Wochen später bei Mrs. Ranelagh getan. Aber das scheint keinen von Ihnen zu kümmern.«
»Und?«
»Das lässt vermuten, dass Annie etwas Schlimmeres geschehen ist als Mrs. Ranelagh – und dass Sie unbedingt verhindern wollen, dass Alan damit in Verbindung gebracht wird.«
War es Einbildung oder bekam Maureen tatsächlich plötzlich Furcht? Dass Alan Angst hatte, war ganz deutlich zu sehen – wenn sein Kopf noch tiefer sank, würde er die Knie berühren.
»Michael hat's uns hinterher erzählt – das hat uns auf die Idee gebracht«, sagte Derek unvermittelt. »Da hat's doch die eine nicht besser verdient gehabt als die andere. Die haben sich beide eingebildet, sie könnten uns in den Dreck ziehen, das Niggerweib genauso wie ihre Freundin.«
»Richtig«, bestätigte Maureen. »Aber angefangen hat Michael – genau wie immer. Der hatte einen ganz üblen Einfluss auf alle anderen, dieser Kerl. Alles Schlimme, was hier in der Straße passiert ist, hat mit ihm und seiner Mutter angefangen, aber immer haben sie uns die Schuld gegeben.«
»Und was ist mit der Vergewaltigung?«, fragte ich zynisch. »Wer ist auf
die
Idee gekommen? Michael war's nämlich ganz sicher nicht – er hat Alan fast totgeprügelt, nachdem der sich an Rose vergriffen hatte. Oder zählt das vielleicht nicht als was Schlimmes?«
Es waren nur Worte – im Zorn hervorgestoßen zur Verteidigung eines Menschen, der nicht da war, um sich selbst zu verteidigen –, aber kaum hatte ich sie ausgesprochen, da war es, als stünde die Zeit still. Niemand auf dem Sofa rührte sich. Es war, als glaubten sie, absolute Reglosigkeit könnte den Fortgang der Ereignisse verhindern und garantieren, dass für immer unausgesprochen bleiben würde, was ich wusste.
Meine erste Reaktion war Verwunderung darüber, dass Derek zu wissen schien, wovon ich redete; dann aber fiel mir ein, dass Michael mir erzählt hatte, Alan sei erst nach der Vergewaltigung Rosies mit seinem Vater aneinander geraten.
Meine zweite Reaktion war, als mir der Grund für ihre Versteinerung klar wurde, eine rein körperliche. Alan hatte auch Annie vergewaltigt! Vergessen war alle Selbstbeherrschung. Vergessen war die Gerechtigkeit. Vergessen selbst das Verlangen nach Rache. Übrig blieb nur der Wunsch zu töten.
Wie eine Tigerin stürzte ich mich auf Alan, rasend vor Ekel, Furcht, Hass und Entsetzen. »Du gemeiner Scheißkerl!«, brüllte ich und rammte seinen Kopf gegen die Wand. »Sie hat im Sterben gelegen! Sie hat im Sterben gelegen, und du hast sie vergewaltigt!«
Er zog den Kopf ein und entwand sich mir. »Ich hab nichts – nur in ihren Mund...«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Maureen ihre Klauen hob, um sie mir ins Gesicht zu schlagen. Und mit allem Hass, der in mir war, donnerte ich ihr die Faust auf den Mund.
Es wäre in eine Massenschlägerei ausgeartet, wenn nicht Geoffrey Spalding im Herzen Pazifist gewesen wäre. Er packte mich bei den Armen, zog mich von Maureen weg und schleuderte mich hinter sich. »Genug!«, herrschte er mich an und pflanzte sich zwischen mir und dem Sofa auf. »Sieh zu, dass du deine Mutter unter Kontrolle bringst«, befahl er Alan, »sonst bitt ich Mrs. Stanhope, die Polizei zu rufen.«
Der Befehl war überflüssig; Alan hielt seine Mutter bereits mit einem Arm im Würgegriff, um sie zu bändigen. Doch das Wort »Polizei« bewog sie immerhin, sich wieder auf dem Sofa niederzusetzen.
Wütend sah sie Geoffrey Spalding an. »Was spielen Sie sich so auf?«, schrie sie. »Sie haben genauso dreckige Hände wie wir.«
Er senkte den Kopf wie ein Terrier, der ein Frettchen im Blick hat, und fixierte sie unverwandt. »Mrs. Ranelagh zufolge wurde Annie, zwei oder drei Stunden bevor ich ihr begegnete, in ihrem Haus zusammengeschlagen, und an den dabei erlittenen Verletzungen ist sie
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