Schlangenlinien
Ursprünglich wollten wir schon in die Staaten zurückkehren, sobald Larry in den Ruhestand ging, aber als mir diese Anstellung in Dorset angeboten wurde, hat er sich bereit erklärt, noch zu warten. Ein paar Jahre könne er es schon noch aushalten, meinte er, solange wir nicht in London leben müssten.« Sie seufzte. »Es ist eine lange Geschichte – voller Kompromisse.«
»Ja, es klingt so«, sagte ich teilnahmsvoll. »Lockt Sie denn das Leben in Florida?«
»Nein«, antwortete sie aufrichtig, »aber noch weniger lockt mich ein einsames Alter. Ich habe zu oft gesehen, wie das ist.«
Eine gesunde Warnung, die von einer Ärztin kam. »Und wieso glauben Sie, dass meine Ehe mit Sam anders ist?«
Sie zuckte die Schultern. »Er würde Sie nicht verlassen, wenn Sie ihm ein Ultimatum stellten.«
Ich wollte schon sagen, dass Sam genau das bereits einmal getan hatte und dass kein Grund zu der Vermutung bestand, dass er es nicht wieder tun würde. Aber dann erkannte ich, dass sie wahrscheinlich Recht hatte. Irgendwann im Lauf unserer Ehe hatten wir die Rollen getauscht, und jetzt war Sam derjenige, der Ultimaten fürchtete. »Er hat mehr Angst vor der Einsamkeit als ich«, sagte ich langsam. »Das heißt, dass ich in unserer Beziehung die Trümpfe in der Hand habe – geradeso wie Larry in Ihrer.«
Sie sah mich überrascht an. »Das ist eine sehr kühle Betrachtungsweise.«
»Aus der Erfahrung geboren«, versetzte ich leichthin. »Wahre Einsamkeit ist es meiner Ansicht nach,
in
einer Beziehung verlassen zu werden – wenn man ständig an sich selbst zweifelt. Ich weiß, wie das ist, und ich weiß, dass ich damit fertig werden kann. Ich vermute, für Larry trifft das Gleiche zu. Er war dort, er weiß, wie es ist, er hat's geschafft – Sie haben diese Erfahrung nicht gemacht. Und Sam auch nicht. Damit sind Sie beide im Nachteil.«
»Larry hat überhaupt keine Ahnung, was Einsamkeit ist«, protestierte sie. »Er ist der geselligste Mensch, den ich kenne. Manchmal bringt er mich damit an den Rand der Raserei. Ständig schleppt er mich zu irgendwelchen gesellschaftlichen Veranstaltungen, wenn ich mich am liebsten in mein Bett verkriechen würde, weil ich nach einem langen Tag mit lauter Kranken hundemüde bin.«
Ich lächelte. »Genau das ist es doch. Sie führen ein ausgefülltes Leben. Larry nicht. Er braucht ein gewisses Programm, einen Lebensinhalt. Sie haben das nicht nötig, Sie fallen abends einfach am liebsten ins Bett, um für den nächsten Tag gerüstet zu sein.«
Sie stützte ihre Arme auf den Zaun und blickte nachdenklich über die Weide. »Und Annie war Ihr Inhalt?«
»Zum Teil.«
»Sie hatten kleine Kinder«, sagte sie. »Haben sie die Lücke nicht gefüllt?«
»Haben Ihre Kinder sie gefüllt?«
»Nein, aber ich hatte einen Beruf. Außerdem bin ich überhaupt nicht der mütterliche Typ. Ich kann es aushalten, dass meine Patienten von mir abhängig sind – aber meine Kinder? Ich erwarte von meinen Kindern, dass sie für sich selbst eintreten.«
Ich fragte mich, ob sie sich selbst reden hörte und ob sie Larry gefragt hatte, was er von dieser Spaltung zwischen Beruf und Privatleben hielt. »Meine Kinder haben nur meine Ängste erhöht«, sagte ich. »Jedenfalls mein Ältester. Wir gingen nach Hongkong, während ich schwanger war, und ein Kind war so ziemlich das Letzte, was ich zu der Zeit brauchte.«
»Wie hat Sam reagiert?«
»Blind.«
Sheila lachte. »Was soll das denn heißen?«
»Er hatte einen Sohn«, sagte ich trocken. »Er fand es toll – Hauptsache, jemand anders kümmerte sich um das Kind.« Eine Weile standen wir in stillem Einverständnis schweigend nebeneinander. Dann fragte ich: »Haben Sie noch eine Kopie der Liste, die Sie von Annies Besitztümern gemacht haben?«
»Liegt sie nicht in dem Hefter?«
»Nein.«
Ihr Gesicht drückte Zweifel aus. »Ich schau mal nach, wenn ich zu Hause bin... wissen Sie, wir haben wahnsinnig viel weggeworfen, als wir vor sieben Jahren hierher gezogen sind. Es fehlen zum Beispiel auch die Briefe, die ich mit der Sozialarbeiterin gewechselt habe. Ich weiß genau, dass sie mir eine ausführliche Beschreibung der Räume von Annies Haus geschickt hat, aber das lag alles nicht bei den Papieren, als ich sie für Sie fotokopierte. Ich fürchte, die Sachen sind beim Umzug untergegangen.«
Ich fragte mich, was noch untergegangen war, und gestattete mir ein paar finstere Gedanken über Larry, der sicher nicht vor ein bisschen Sabotage zurückschrecken würde,
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