Schlangenlinien
hätten Profis wissen sollen, was im Haus war?«, fragte ich. »Sie haben doch selbst gesagt, dass sie keinen Menschen reingelassen hat.«
»Aber das gilt auch für ihre Nachbarn«, entgegnete sie. »Ihnen gegenüber war sie sogar noch misstrauischer.«
»Sie haben bei ihr durch die Fenster geschaut.« Ich erinnerte mich, wie ich einmal eine Horde junger Halbstarker ertappt hatte, die bei Annie durch die Fenster gespäht und Grimassen geschnitten hatten. »Die Kinder waren am schlimmsten. Sie machten sich einen Spaß daraus, sie zu erschrecken.«
Sheila griff zur Krempe ihres Huts, als eine warme Brise über das Feld blies. »Larry war überzeugt, es war derjenige, der damals ihre Sachen geschätzt hat. Er meint, das sei Schwindel gewesen – irgendein Kerl, der von Tür zu Tür gegangen ist und sich als Kunst- oder Antiquitätenfachmann ausgegeben hat, um einen Blick in die Häuser zu werfen.«
Das klang einleuchtend.
»Aber ich bin anderer Meinung«, fuhr sie fort. »Ich bin fast sicher, dass der Schätzer von Sotheby's kam, ich erinnere mich nämlich, dass ich dachte, die Zahlen müssen stimmen, wenn ein angesehenes Auktionshaus sie errechnet hat.« Sie seufzte. »Und jetzt könnte ich mich schwarz ärgern, dass ich damals nicht weiter nachgefragt habe. Die ganze Sache war doch irgendwie komisch. Ich meine, was hat Annie überhaupt veranlasst, die Sachen schätzen zu lassen? Und dann auch noch einen Wildfremden in ihr Haus zu lassen!« Sie schüttelte ihren Arm, und der Jadereif schlug klappernd gegen ihre Armbanduhr. »Als sie sagte, ich könnte mir etwas aussuchen, durfte ich nichts anfassen. Ich durfte mir die Sachen nur anschauen.«
»Wann hat sie Ihnen die Liste gezeigt?«
»Irgendwann im Sommer. Sie war an diesem Tag besonders schwierig, das weiß ich noch. Erst gab sie mir die Liste zum Lesen, und im nächsten Moment hat sie sie mir aus der Hand gerissen, als hätte sie Angst, ich wollte sie stehlen. Sie war manchmal wie ein Automat und hat dann unentwegt dieselben Worte und Handlungen wiederholt, bis irgendetwas Neues sie aus diesem Kreislauf hinauskatapultiert hat. Wenn sie solche Zustände hatte, konnte sie sehr anstrengend sein. Wahrscheinlich habe ich deshalb nicht einmal gefragt, wozu sie ihre Sachen hatte schätzen lassen.«
»Vielleicht hat die Versicherung es zur Bedingung gemacht«, meinte ich. »Keine Wertbestimmung, keine Versicherung.«
»Ach!« Sie seufzte gereizt. »Das hat die Polizei auch gesagt, aber das war doch Quatsch. Wie soll das zusammengehen? Entweder war sie total schwachsinnig und hat ihr Leben mit Alkohol zerstört, oder sie war so auf Draht, dass sie in der Lage war, sich ganz allein um eine Versicherung zu kümmern. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn ich mit dem Filialleiter ihrer Bank hätte sprechen können, aber als mir der Gedanke kam, war er längst weg. Irgendjemand sagte mir, er wäre in Saudi-Arabien, aber ich habe nie etwas unternommen.«
(Aber
ich
hatte es getan und hatte die Auskunft des Mannes, die mich über eine ausgesprochen schlechte Telefonverbindung aus Riad erreichte, noch wörtlich im Kopf. »Da kann ich Ihnen nicht helfen, fürchte ich. Miss Butts hatte sich leider in den Kopf gesetzt, ich hätte es darauf abgesehen, sie zu bestehlen, und ich habe ihr Konto daraufhin an meinen Stellvertreter weitergegeben, der vor fünf Jahren gestorben war.«)
»Haben Sie nicht daran gedacht, bei Sotheby's nachzufragen, ob sie noch eine Kopie der Liste haben und vielleicht wissen, warum Annie ihre Sachen schätzen ließ?«
»Nein, aber das hätte auch nichts gebracht«, sagte sie mit einem herben Lachen. »Larry fing an, sich darüber aufzuregen, wie viel Zeit ich an die Geschichte verschwendete, also hab ich Annie ad acta gelegt und mich Mann und Kindern gewidmet.«
Ich dachte an Sams Wut wegen des Polizeibeamten in Hongkong. »Es ist manchmal ganz schön schwer, nicht?«
»Was?«
»Seine Pflicht zu tun.«
»Ja.« Sie lächelte ein wenig bitter. »Aber das Schwerste kommt erst noch.«
»Wie meinen Sie das?«
»Larry ist älter als ich und nur aus Rücksicht auf mich hier in England. Sobald ich pensionsberechtigt bin – und das ist schon in zwei Jahren –, gehen wir für immer nach Florida. Er hat dort eine Eigentumswohnung.«
»Und warum machen Sie das mit?«, fragte ich neugierig.
»Weil wir es so vereinbart haben, als er mich mit den Kindern mitgenommen hat.« Sie las Kritik in meiner Miene. »Unsere Ehe läuft anders als Ihre mit Sam.
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