Schlangenlinien
entgegnete sie unwirsch. »Jedes Mal, wenn ich irgendwo in einer Türnische einen Obdachlosen liegen sehe, denke ich, was für ein Verbrechen es ist, dass für die wirklich Benachteiligten nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf da ist.«
»Manche würden sagen, dass Maureen Slater zu den wirklich Benachteiligten gehörte«, meinte ich. »Sie musste viel aushalten von ihrem Mann.«
»Ja, meinetwegen, bei Maureen ist es was anderes«, gab sie widerwillig zu. »Die hat dieser brutale Kerl ja dumm und dusselig geschlagen. Mein Mann sagte immer, sie sei völlig blöde von den vielen Prügeln, aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass der Alkohol mehr damit zu tun hatte. Sie war genauso abhängig wie Derek – wenn auch vielleicht mit mehr Berechtigung.« Sie bemerkte meine Überraschung. »Betäubung«, erklärte sie. »Es muss doch sehr schmerzhaft gewesen sein, als Sparring-Partner benutzt zu werden.«
»Trotzdem...«, sagte ich langsam, »wenn sie von den vielen Schlägen ‘blöde’ geworden war, wie konnte sie es sich dann leisten, das Haus zu kaufen? Arbeiten konnte sie doch vermutlich nicht, woher hat sie also das Geld genommen, auch wenn sie nur ‘einen Apfel und ein Ei’ auftreiben musste?«
Darauf blieb es lange still.
»Sie verschweigen mir doch etwas«, sagte Wendy schließlich.
Ich ließ mir Zeit, um meine Antwort zu überlegen, und beschloss dann, offen zu sein. »Ich habe vor kurzem Sheila Arnold getroffen – Annies Ärztin. Sie sagte mir, dass Annies Haus ausgeraubt wurde. Und ich frage mich, wer es ausgeraubt hat, was dabei für die Diebe herausgesprungen ist und wie sie das Geld verwendet haben.«
»Ach, du meine Güte«, sagte Wendy ehrlich betroffen. »Ich glaube wirklich nicht, dass an der Geschichte etwas Wahres ist. Sheila brachte sie erst aufs Tapet, als man sie beschuldigte, einen anderen Patienten vernachlässigt zu haben – und das war drei oder vier Jahre nach Annies Tod. Sie hat sich erst gerührt, als ihre eigene Existenz auf dem Spiel stand; vorher hat sie nicht das geringste Interesse gezeigt.« Sie gestikulierte erregt. »Das war doch alles sehr sonderbar. Jahrelang kein Mucks – und dann will Sheila uns plötzlich weismachen, Annie sei gar nicht die arme Seele gewesen, für die wir sie immer gehalten haben, sondern im Gegenteil eine wohlhabende Frau, die bis kurz vor ihrem Tod in guten Verhältnissen lebte. Das Ganze wurde sehr rasch sehr unerfreulich, Beleidigungen flogen hin und her, und jeder bezichtigte den anderen der Lüge.«
Ich sagte nichts, und sie schien zu glauben, sie hätte mich aus der Fassung gebracht.
»Sind Sie jetzt enttäuscht?«, fragte sie. »Das tut mir wirklich Leid. Mein Mann hat mir erzählt, wie sehr Annies Tod Sie erschüttert hat.«
»Bitte entschuldigen Sie sich nicht.« Ich fragte mich, was ihr Mann ihr noch über mich erzählt hatte. »Ich bin nicht enttäuscht.« Ich öffnete meinen kleinen Rucksack, in dem ein dicker Ordner mit allen Unterlagen steckte, die ich gesammelt hatte. Nachdem ich einen Umschlag mit Zeitungsausschnitten herausgenommen hatte, blätterte ich diese durch, bis ich zum Juni 1982 kam. »Ist das die Geschichte, von der Sie sprechen?«, fragte ich und reichte ihr den Bericht »Ärztin bestreitet Pflichtverletzung«.
»Ja«, sagte sie erstaunt und sah von dem vergilbten Papier auf. »Wie lange haben Sie den schon?«
»Siebzehn Jahre. Es war das fünfte Mal, dass Annies Name nach den Meldungen von ihrem Tod in der Presse erschien. Das hier«– ich zog die restlichen Ausschnitte aus dem Umschlag und wedelte mit dem Bündel leicht hin und her –»sind die anderen Verweise auf sie. Meistens wird ihr Fall zitiert, um zu zeigen, wie gefährlich es ist, die Schwachen und Verletzlichen sich selbst zu überlassen.« Ich musste lächeln über Wendys Gesicht. »Ich habe verschiedene Freunde, die Artikel für mich aufheben, und ich bezahle meine alte Unibibliothek dafür, dass man dort die Lokal- und die überregionalen Zeitungen durchsieht«, erklärte ich.
»Du lieber Gott!«
»Nicht nur nach Hinweisen auf Ann Butts, sondern auch auf die beiden Polizeibeamten, die für die Ermittlungen nach ihrem Tod zuständig waren«, fuhr ich fort und zog einen zweiten Umschlag heraus. »Das sind alle Artikel, die sich auf sie beziehen. Der eine, Constable Quentin, ist vor sieben Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der andere, Superintendent Drury, ging 1990 in den Ruhestand und übernahm danach ein Pub, das zur Radley Brauereikette
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