Schlangenlinien
mit Korrespondenz meines Vaters, der seit Jahren für mich Briefe geschrieben hat, und Julia und Libby melden sich so ungefähr jedes halbe Jahr, um mich über das Tun und Treiben der Leute auf dem Laufenden zu halten.«
Er schien entsetzt. »Weiß Jock, dass du mit Libby Kontakt hast?« Er redete in einem Ton, als hätte ich mich am schlimmsten Verrat beteiligt. Ganz schön dreist, in Anbetracht der Dinge...
»Er glaubte doch immer, wir wären auf seiner Seite. Das hab ich ihm selbst gesagt!«
»Tja, da hattest du nur zur Hälfte Recht«, entgegnete ich. »
Du
warst immer auf seiner Seite.«
»Ja, aber...« Er hielt inne, offensichtlich von neuen, unerfreulichen Gedanken überfallen. »Weiß deine Mutter, dass dein Vater schon jahrelang Briefe für dich schreibt?«
»Nein.«
»Sie wird ausrasten«, sagte er mit Schrecken. »Sie hat immer geglaubt, dieser ganze Mist wäre seit Jahren begraben.«
Erinnerte er sich, dass meine Eltern morgen zu Besuch kommen wollten, oder hatte er das wie alle anderen unangenehmen Dinge in seinem Leben einfach verdrängt? »Mach dir keine Sorgen«, murmelte ich. »Du wirst nichts abbekommen. Wenn einer ihren Ärger zu spüren bekommt, dann ich.«
»Und was ist mit deinem Vater?«, rief er. »Den macht sie doch bestimmt fertig, wenn sie hört, dass er jahrelang hinter ihrem Rücken mit dir gemauschelt hat.«
»Das braucht sie ja nicht zu erfahren.«
»Oh, aber sie wird's erfahren«, sagte er mutlos. »Sie erfährt immer alles.«
Ich dachte an den Rat meines Vaters bezüglich des kleineren Übels. Wenn nichts anderes, so würde auf jeden Fall Sams Unfähigkeit, seine Gefühle zu verbergen, den Jagdinstinkt meiner Mutter wecken. »Ach, sie wird vielleicht ein, zwei Tage wütend sein«, sagte ich. »Spätestens dann wird sie sich eingeredet haben, es sei alles meine Schuld. Sie ist doch darauf programmiert, niemals bei Männern die Schuld zu suchen. Für sie steht fest, dass Eva Adam verführt hat.« Ich sah Sam fest in die Augen. »Obwohl sie wissen sollte, dass Adam sich beinahe mit Sicherheit ohne Evas Zustimmung an ihr vergriffen hat.«
Er hatte den Anstand, rot zu werden. »Ist es das, worum es hier geht? Vergeltung?«
Ich antwortete nicht.
»Hättest du es mir nicht sagen können?«
Ich seufzte. »Was denn? Dass ich mich mit etwas beschäftige, was mir wichtig ist? Soweit ich mich erinnere, hast du mich als neurotische Ziege bezeichnet, als ich das letzte Mal etwas in der Richtung sagte, und mir erklärt, du würdest dich scheiden lassen, wenn ich noch ein einziges Mal in deinem Beisein Annies Namen erwähne.«
Er wedelte hilflos mit der Hand. »Das hab ich doch nicht so gemeint.«
»Doch, hast du schon«, sagte ich kurz, »und wenn ich damals nur halb so viel Selbstbewusstsein besessen hätte, wie Tom und Luke es heute haben, hätte ich dir gesagt, was du mit deiner Scheißscheidung anfangen kannst. Ich bin nur bei dir geblieben, weil ich nicht wusste, wohin. Meine Mutter wollte nichts mit mir zu tun haben, keine meiner Freundinnen hatte Lust, eine Verrückte in ihrem Gästezimmer unterzubringen.«
»Du hast gesagt, du wolltest bleiben.«
»Da hab ich gelogen.«
Sam ließ sich vorsichtig auf einem ungeöffneten Weinkarton nieder. »Ich dachte, das alles wäre längst vergessen. Ich dachte, du hättest es vergessen.«
»Nein, hab ich nicht.«
»Lieber Gott«, murmelte er und versank, den Kopf in die Hände gestützt, in ein langes Schweigen. Schließlich rappelte er sich auf. »Hast du mich eigentlich je geliebt?«, fragte er bitter.
Ich wollte ihm sagen, das sei eine kindische Frage; wenn er die Antwort darauf nach vierundzwanzig Jahren nicht wisse, würden auch Beteuerungen von mir nichts daran ändern. Ich wollte ihn fragen, ob er glaube, dass es einen Menschen gäbe, der auf die Dauer mit jemandem zusammenleben könne, den er nicht liebt. Aber unten auf der Terrasse donnerten plötzlich die Bässe los, dass die Wände des alten Hauses wackelten, und ich wurde einer Antwort enthoben.
Ich ging ins Bad, um mich umzuziehen, und ließ meinen Rucksack inspektionsbereit für Sam auf dem Bett liegen. Es war eine feige Art, ihm etwas mitzuteilen, aber das störte mich nicht. Wie der alte Spruch besagt – man erntet, was man sät –, und Sams Ernte war lange überfällig.
* * *
E-Mail aus dem Jahr 1999 von Mrs. Julia Charles, ehemalige Nachbarin der Ranelaghs in der Graham Road 3, Richmond – jetzt in Toronto, Kanada, ansässig
Von: Julia Charles
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