Schlangenlinien
wollten. Die Zeit konnten sie nicht genau angeben, meinten aber, es sei kurz nach neun gewesen.«
Er richtete seinen Blick auf die Fotografien, die immer noch auf meinem Schoß lagen. »Und warum sollten diese Leute gelogen haben, als sie sagten, sie hätten sie gesehen?«
»Ich glaube gar nicht, dass sie gelogen haben«, antwortete ich langsam, »außer vielleicht Geoffrey Spalding, und der hat möglicherweise nur in Bezug auf die Zeit die Unwahrheit gesagt. Denn die Zeiten sind wichtig, verstehst du. Die Polizei meint unter anderem deshalb, Annie habe die schweren Verletzungen erst fünfzehn bis dreißig Minuten vor ihrem Tod erlitten, weil die Pardoes und das Paar im Auto aussagten, dass sie um oder gegen neun noch auf den Beinen gewesen sei. Aber um halb zehn war sie tot; folglich muss ihr nach Meinung der Polizei in diesen dreißig Minuten etwas zugestoßen sein.«
»Wie kannst du dann erwarten, dass irgendjemand dir glaubt, wenn du behauptest, sie sei schon Stunden vorher totgeprügelt worden?«
»Ich sagte, dass man sie bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt hat, Jock. Ich habe nicht behauptet, sie sei tot gewesen. Annie war eine große und ausgesprochen kräftige Frau.« Ich starrte auf das schrecklich zugerichtete tote Gesicht auf dem Foto, als könnte es mir etwas verraten. »Ich glaube, sie ist im Haus wieder zu sich gekommen und hat es irgendwie geschafft, sich auf die Straße hinauszuschleppen, um Hilfe zu suchen. Das Wunder ist doch, dass sie noch genug Kraft hatte, um den Versuch zu machen, ein vorüberfahrendes Auto aufzuhalten. Jeder Arzt würde einem wahrscheinlich sagen, das sei unmöglich, weil sie so schwere Schädelverletzungen hatte, aber es ist die einzige Erklärung dafür, dass sie draußen auf der Fahrbahn war und wie eine Betrunkene wirkte.«
»Oder aber die Polizei hatte die ganze Zeit Recht«, meinte Jock. »Ich habe damals den Bericht über die Verhandlung vor dem Coroner gelesen. Da hieß es, sie habe eine Menge Alkohol im Blut gehabt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Genau fünfundneunzig Milligramm auf hundert Milliliter Blut – oder 0,15 Promille über dem Grenzwert im Straßenverkehr. Das entspricht vier oder fünf Schnapsgläsern Rum – gar nichts für jemanden, der so viel trank wie Annie. Sam und ich schaffen das an Wochenenden mühelos – du bestimmt auch –, ohne dass wir deswegen wie die Zombies herumtorkeln.« Ich seufzte verdrossen. »Sie wurde als Opfer eines Verkehrsunfalls abgestempelt, also vermerkte der Pathologe routinemäßig, sie sei ‘fahruntüchtig’ gewesen, woraus Polizei und Coroner einen ‘hohen Alkoholgehalt im Blut’ machten. Gerechterweise muss man zugeben, dass sie Zeugenaussagen hatten, in denen Annie als ‘stockbetrunken’ bezeichnet wurde, und die Polizei ganze Kisten leerer Wodkaflaschen in ihrem Haus fand. Aber wenn der Pathologe ordentlich gearbeitet hätte, dann hätte er sich gefragt, ob 0,95 Promille ausreichen, um eine Frau von Annies Statur und Gewicht, die außerdem als Gewohnheitstrinkerin bekannt war, ins Taumeln zu bringen.«
»Du hast ja deine Hausaufgaben wirklich gründlich gemacht, hm?«
»Richtig.«
»Und was sagt die Polizei?«
»Bis jetzt noch gar nichts. Ich möchte diesen Leuten Material vorlegen, das absolut stichhaltig ist, damit sie den Fall wieder aufrollen müssen, ob sie wollen oder nicht.« Ich schwieg einen Moment. »Dazu brauche ich auch Sharon und dich. Ihr müsst zugeben, dass ihr das Paar wart, das ich am Abend von Annies Tod in der Graham Road gesehen habe.«
Er zuckte die Achseln. »Damit habe ich kein Problem. Aber sie wird vielleicht eines haben.«
»Wieso?«
»Sie hat gelogen, als sie bei der Verhandlung aussagte. Sie war erst um Viertel nach neun im
William of Orange
. Wir haben uns meistens so um halb neun dort getroffen, haben kurz was getrunken und sind durch die Hintergasse zu ihr nach Hause gegangen. Aber an dem Abend kreuzte sie im Taxi auf, voll bis unter die Mütze und nicht im Geringsten daran interessiert, noch was zu verdienen. Daraufhin hab ich sie die A316 runter begleitet und mich von ihr getrennt, als wir in die Graham Road kamen.« Er fuhr zu sprechen fort, bevor ich dazu kam, die nahe liegende Frage zu stellen. »Sie sagte, sie wäre mit einem anderen Kunden in irgendeinem Hotel gewesen. Ich nehme an, das war die Wahrheit. Sie war voll aufgedonnert und stank nach Zigaretten.« Er schüttelte leicht den Kopf bei der Erinnerung. »Von zu Hause war sie bestimmt nicht gekommen. Aber
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