Schlangenlinien
wenn sie vor allem innere Verletzungen erlitten hatte. Im Übrigen gab es ja Spuren. Die Polizei selbst hat sie protokolliert. Beschädigte Möbelstücke, die auf einen Kampf schließen ließen... nackte Fußböden, was darauf schließen lässt, dass sie tatsächlich geblutet hat und die Teppiche entfernt wurden... menschliche Exkremente im Flur, eine klassische Angstreaktion vor Eindringlingen. Sie stank nach Urin, als ich sie fand, Jock, was vermuten lässt, dass er auf sie uriniert hatte.«
Er wandte sich ab und machte sich an den Stiften auf seinem Schreibtisch zu schaffen. »Das ist ja widerlich.«
»Ja.« Ich zuckte müde die Achseln. »Und wenn ihr beide, du und Sam, nicht gelogen hättet, als ihr gesagt habt, ihr hättet sie um Viertel vor acht gesehen, dann hätte die Polizei die Spuren vielleicht richtig interpretiert, anstatt Annie als Pennerin abzutun.«
Er leckte sich aufgeregt die Lippen. »Hat Sam gesagt, dass wir gelogen haben?«
Ich nickte, den Blick auf die Fotos auf meinem Schoß gerichtet. »Er bekam eines Nachts in Hongkong großes Heimweh und fing an, mir Vorwürfe zu machen. Er behauptete, nur meinetwegen hätten wir England verlassen müssen. Da kam dann morgens um drei alles so nach und nach heraus... du hättest ihn angerufen und ihn angefleht, dir ein Alibi zu geben... ich hätte ihm das Leben zur Hölle gemacht, weil ich der Polizei gegenüber behauptete, Annie sei ermordet worden... die Entscheidung, ob er zu seiner Frau oder zu seinem besten Freund stehen solle, habe ihn fertig gemacht.« Ich zuckte die Achseln. »Du warst seitdem bei mir so ziemlich unten durch. Du warst mit schuld, dass ich gelitten habe wie ein Hund, und das hab ich dir nie verziehen.«
»Es tut mir Leid«, sagte er verlegen.
Ich konnte nicht umhin, seine Loyalität zu bewundern. Es war mehr, als Sam verdiente, aber es sprach für ihre Freundschaft, die all die Jahre hindurch dank regelmäßigem Kontakt gehalten hatte.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Polizei den Fall wieder aufrollen wird«, sagte ich, »und dann wird man als Erstes sehr genau prüfen, wo die verschiedenen Leute sich in den Stunden vor Annies Tod aufgehalten haben. Sie ist kurz nach halb zehn gestorben«, erinnerte ich ihn. »Wenn du also dreißig bis vierzig Minuten bei Sharon warst und um halb acht gegangen bist, dann warst du innerhalb der Zeitspanne im Haus, die solche Blutergüsse«– ich tippte auf die Fotos –»brauchen, um sich zu entwickeln.«
Sein Blick flog zu den Fotos.
»Und das heißt, dass du gehört haben musst, was nebenan los war«, fuhr ich sachlich fort, »oder dass Sharon es gehört hatte, kurz bevor du zu ihr kamst. So oder so wäre dir etwas aufgefallen. Von einer Frau, die gerade mit angehört hat, wie ihre Nachbarin bewusstlos geprügelt wurde, gibt's ganz sicher keinen heißen Sex.« Ich musterte ihn aufmerksam. »Aber Sharon wird sowieso behaupten, deine Geschichte wäre nichts als Quatsch, denn sie war ja ihrer Aussage zufolge von sechs bis Viertel nach neun im Pub, richtig?«
»Das ist doch verrückt.« Sein Blick schweifte zu dem Telefon, das auf seinem Schreibtisch stand. »Was sagt Sam denn?«
»Nicht viel... außer dass er Stein und Bein schwört, von Sharon nichts gewusst zu haben, und alle Verantwortung ablehnt, wenn du ihn darüber belogen hast, warum du so dringend ein Alibi brauchtest.«
Die Unterstellung, Sam belogen zu haben, schien ihm endlich den Anstoß zur Aufrichtigkeit zu geben. Oder aber sein Ärger darüber, von allen zum Sündenbock gemacht zu werden, kochte schließlich über.
»Sam wusste besser als jeder andere, dass ich nicht den Mumm hatte, je wieder eine Spielkarte anzurühren«, sagte er bitter. »Ich bin vielleicht jemand, der gern mal was riskiert, aber ich bin kein Idiot. Ich bin gleich beim ersten Mal ein paar Profis auf den Leim gegangen, und es wär mir nicht eingefallen, denen eine zweite Chance zu geben.« Er massierte seinen Nasenrücken zwischen Zeigefinger und Daumen. »Und Sharon spielte nie eine Rolle. Ich hätte es vor Libbys Augen mit sämtlichen Nutten Londons treiben können, und sie hätte nicht mal mit der Wimper gezuckt. Unsere Ehe war seit Monaten hinüber... Die Frage war nur noch, wer von uns zuerst seine Sachen packen würde.«
»Warum hast du dann in deiner Aussage gelogen?«
Er sah in meinen Augen, dass ich die Antwort wusste. »Muss ich dir das jetzt wirklich im Einzelnen auseinander setzen? Die Sache war ja schon gegessen, bevor ihr aus
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