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Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Titel: Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Etwas, an das man sich nicht zurückerinnert. Zu einem solchen Etwas schnurrt die Welt zusammen, als Erik sie durchläuft.
    Nicht nur die Häuser verwandeln sich. Die Straßen werden zu widerlichen grauen Bleistiftstrichen, die Bäume zu streichholzartigen Holzstäbchen. Wo vorher liebevoll angelegte Gärten waren, bleibt nur noch eine Ansammlung von kleinen grünen Stoffresten und anderem Abfall. Die prachtvollen Gemüsebeete sind nichts als bunte Papierschnipsel. Wie ein Schatten des Wahnsinns fließt eine Linie über das Land, angeführt von Erik und dem schwarzen König.
    Das schlimmste sind natürlich die Menschen. Ihnen bleibt nur wenig Zeit, über die Verwandlung ihres Dorfes, über das Abrutschen der Umwelt zur Bedeutungslosigkeit zu erschrecken. Sie selbst verwandeln sich mit, werden zu grob geschnitzten hölzernen Puppen, kaum mehr als aufrechte Sägespäne. Sie erstarren und sterben, nein, sie sterben nicht – sie tun etwas Schlimmeres als zu sterben: sie treten in einen Zustand, in dem sie niemals gelebt haben.
    Eine Stimme sagt ihm, dass es besser wäre stehen zu bleiben. Er treibt die Linie des Grauens weiter über das ganze Land, und er weiß es. Doch eine furchtbare Angst erfüllt ihn, und er weiß auch, dass er nicht einfach anhalten und zurückblicken kann auf das, was mit der Welt geschehen ist. Nicht, ohne den Verstand zu verlieren. Ihm bleibt nur die Flucht, weg von allem, was er gekannt zu haben glaubt.
    Er kommt an der Sternwarte vorüber, dem Uhrhaus, und kann es kaum ertragen mit anzusehen, wie das imposante Teleskop, das aus dem Dach ragt, sich in ein rundes Holzstück verwandelt, das aussieht wie das Ende eines Besenstiels. Hat Lars wirklich seine ganzen Entdeckungen und Weissagungen gemacht, indem er durch einen Besenstiel sah?
    Auch sein eigenes Haus passiert Erik auf seiner wahnwitzigen Flucht, und er dankt allen Göttern, das seine Eltern nicht auf die Straße gerannt kommen, als das Gebäude sich in ein kartenhausähnliches Objekt aus Papier verwandelt. Er hätte den verständnislosen Schrecken auf dem Gesicht des Vaters nicht ertragen können, selbst wenn es nur einen Moment gedauert hätte, bis der Mann selbst zu einem sinnlosen Stück Holz geworden wäre.
    Das Dorf bleibt hinter ihm, verloren, eingenommen von einer feindlichen Realität. Er spürt, dass es keinen Weg geben wird, dieses Territorium wieder zurückzuerobern. Selbst wenn der weiße König die Macht haben sollte, die Veränderung rückgängig zu machen, ist es unmöglich geworden. Der weiße König existiert nicht mehr. Falls Erik zu dem Haus zurückkehrt, in dem der Fremde logiert hat, wird er dort kein Schachbrett mehr vorfinden, keine Figuren, keinen Fremden. Es wird ihm vermutlich nicht einmal gelingen, die Tür des Hauses zu öffnen, da es keine Tür mehr gibt.
    Der Junge kämpft sich durch den Distelwald, der das Dorf umgibt, und für einen winzigen blasphemischen Moment ist er beinahe erleichtert über das, was geschehen ist. Er erkennt jetzt nämlich, dass es sich nicht wirklich um Disteln handelt, sondern lediglich um kleine, Zahnstochern ähnliche Holzstäbchen. Sie können ihm nichts anhaben, sie krallen sich nicht in sein grünes Gewand, und er begreift zweierlei:
    Erstens, was ihm nie aufgefallen ist, dass die Kleidung aller Dorfbewohner aus demselben grünen Stoff gefertigt ist.
    Zweitens, dass die Distelsamen im Gewand des Fremden nicht von den Disteln herrühren können. Er muss sie schon vorher gehabt haben. Woher? Wer ist der Fremde? Wer sind sie alle? Woher kommen sie?
    Ist der schwarze König die einzige Realität? Er verändert sich nicht. Er nicht und Erik nicht. Erik ist fest entschlossen, die Figur niemals loszulassen. Möglicherweise ist sie das manifestierte Böse, der Bringer des Unheils. Aber gleichzeitig scheint sie ihn auch zu schützen wie ein Amulett.
    Der Wald aus Holzstäbchen wird dünner, verschwindet ganz, und die Landschaft ist nur mehr eine flache Ebene ohne Erhebungen, ohne Vegetation. Erik wird nicht müde. Die Flucht strengt nur seinen Geist an, quält seinen Verstand. Körperlich spürt er keine Erschöpfung. Er rennt weiter auf einer scheinbar endlosen, einförmigen, unpersönlichen Fläche, immer weiter, und so unangenehm es ist, durch eine Landschaft zu laufen, die keine Landschaft ist, sondern nur ein riesiges Brett, so versöhnlich ist es, dass der schwarze König ihr nichts anzuhaben vermag. Wo nichts ist, kann nichts zerstört werden. Ein mathematisches Minimum an Form

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