Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
kann.
„Es ist beinahe, als hätte man zwei Himmel“, fährt Lars fort. „Einen über sich und einen vor sich auf dem Tisch.“ Seine Augen glänzen, vielleicht aus wissenschaftlicher Faszination heraus, vielleicht, weil er entdeckt hat, dass sich ganz unten in dem Fresspaket, das Erik ihm gebracht hat, ein Stück Nusskuchen als Nachtisch versteckt.
Der Junge muss daran denken, wie der Fremde konzentriert um den Tisch herumgegangen ist, als sehe er in den drei Figuren auf dem Brett tiefere Zusammenhänge. Einen ähnlichen Eindruck macht Lars, wenn er durch sein Riesenteleskop an den Himmel starrt. Wo er, Erik, nur eine Schar von Lichtpunkten sieht, erkennt Lars Bilder, Figuren und Veränderungen. Sein Teleskop ragt in der Mitte des Zimmers aus der Decke, und auch der Fremde hat den Tisch in die Mitte des Zimmers gestellt.
„Ja, der Mensch hat zwei Augen“, philosophiert der Sterngucker, während er sich genüsslich den Kuchen einverleibt. „Warum sollte nicht eines nach oben sehen und eines nach unten? Es würde eine herrliche Symmetrie ergeben, wenn uns ein Fenster oben und eines unten mit der höheren Macht verbinden würde, die unser Schicksal bestimmt. Und Symmetrie ist in der Wissenschaft immer ein gutes Zeichen, weißt du? Ein sehr gutes Zeichen.“
„Die Stellung der Sterne bestimmt unser Schicksal“, rekapituliert Erik. „Und die Stellung der Figuren auf dem Schachbrett könnte eine ähnliche Bedeutung haben.“
„Ganz recht, ganz recht“, erwidert Lars und leckt sich die letzten Krümel des Kuchens aus der Hand.
„Aber wir können die Sterne nicht bewegen“, redet Erik weiter.
Lars lacht. „Nein, mein Junge, das können wir nicht. Das erledigen die Götter für uns – oder das große Uhrwerk der Natur.“
Erik lacht nicht. Er blickt sehr ernst drein, als er sagt: „Aber die Figuren auf dem Schachbrett können wir bewegen.“
„Ja, das können wir, sicher kö-…“ Der Sterngucker stockt. Sein Lächeln zerfließt wie ein Tintenklecks, den jemand mit Wasser bespritzt. „Was willst du damit sagen?“
„Ich meine nur: Wenn jemand die Schachfiguren bewegt, verändert er dann nicht auch das Schicksal der Menschen?“
„Oh nein. Nicht, wenn das Schachspiel nur ein Orakel ist. Der Spieler schafft die Zukunft nicht, er liest sie nur.“
„Aber die Symmetrie, die Symmetrie!“, ruft Erik.
„Welche Symmetrie?“
„Die beiden Fenster. Bewegungen am Himmel – Bewegungen auf dem Brett. Wenn es eine Symmetrie gibt, wirken sie sich beide auf das aus, was zwischen den Fenstern ist, oder? Auf unsere Welt.“
„Kein Mensch kann über ein Schachspiel die Realität beeinflussen“, behauptet Lars. „Das wäre Magie.“
„Aber welchen Sinn soll es sonst haben, was der Fremde tut?“
„Du sagst, er stellt drei Figuren so, dass eine Schachmattsituation entsteht?“
„Ja, und er sagt, das sei ein neues Spiel namens Schachmatt für Schwarz .“
„Und er starrt immerzu nur auf das Brett?“
„Das nehme ich an.“
„Dann ist er entweder verrückt oder …“
„… ein Zauberer, der unser Dorf verhext.“
„Unsinn. Jetzt klingst du schon wie all die anderen.“ Der Sterngucker durchsucht immer wieder das Paket, in dem das Essen war, aber er findet dort nichts mehr. Er hat alles aufgegessen. „Schande“, murmelt er. „Das Gespräch mit dir war so interessant, dass ich mich kaum erinnern kann, was ich gegessen habe. Na gut. Bestell deinen Eltern auf jeden Fall einen schönen Gruß von mir.“
„Du wolltest mir noch die Karten zeigen.“
„Welche Karten?“
„Die von den neuen Sternbildern, die du gefunden hast.“
„Ah, richtig.“ Lars scheint nicht unglücklich darüber zu sein, dass das Gespräch sich von dem Schachbrett entfernt. Eilig erhebt er sich und geht um das Teleskop herum. Dieses zeigt ins Zimmer wie der Finger eines Gottes, der den häufig darunter sitzenden Menschen zu zerdrücken droht. Erik fragt sich, ob der Sterngucker ab und zu Albträume in dieser Richtung hat.
Lars kehrt mit einem Armvoll zusammengerollter Karten zurück und breitet sie vor Erik aus. Seine Finger sind noch immer etwas fettig, aber das scheint ihn jetzt nicht mehr zu stören. „Bizarr, was?“
Der Junge betrachtet die Sternanordnungen. Auf der ersten Karte sind es nur Punkte, und es fällt ihm schwer, Formen darin zu erkennen. Die weiteren Karten zeigen dieselben Sterne, nur hat Lars auf ihnen versucht, sie zu Figuren zusammenzufassen.
Und diese Figuren sind tatsächlich
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