Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
ansehen“, rät Erik. „Mich zum Beispiel.“
Der Mann stößt ein Knurren aus. „Mach dich nicht lächerlich über mich. Du siehst, dass es gerade nicht geht.“
„Ich habe mir eine Lösung überlegt“, sagt Erik zögernd. „Ich glaube, ich weiß, wie der schwarze König zu retten ist …“
Plötzlich findet der Fremde die Kraft, seinen Blick auf den Jungen zu richten. Es ist, als habe dieser einen Zauberspruch formuliert und den Bann gebrochen. „Eine Lösung?“ Die Augen des Mannes sind gerötet, und tief in ihnen lauert eine dräuende Dunkelheit, wie der Tod oder das Nichts. „Welche Lösung hast du gefunden?“
Erik schluckt. Er hat gelogen, als er die Behauptung aufgestellt hat. In Wirklichkeit hat er keine Lösung. Wie könnte er? Aber er verfolgt eine bestimmte Strategie. Die schlaflose Nacht hat ihm genügend Zeit gelassen, sie auszubaldowern. Zumal sie sehr, sehr primitiv ist. So primitiv, dass er nicht recht an ihr Funktionieren glauben kann. „Ratet einfach“, schlägt er vor.
„Ein Junge wie du könnte auf alle möglichen Ideen kommen“, beginnt der Fremde. „Hast du dich etwa mit dem Einfluss des Bretts auf den Spielverlauf beschäftigt?“
Erik antwortet nicht. Sein Plan scheint aufzugehen. Nun darf er keinen Fehler begehen.
„Du hast also begriffen, dass dies mehr als ein Schachspiel ist.“
Erik nickt vorsichtshalber. Meint der Fremde das Orakel, von dem auch Lars gesprochen hat? Was sonst kann er unter „mehr als ein Schachspiel“ verstehen?
„Ja, es existieren Tausende von Varianten des Spiels, das man Schach nennt“, sagt der Mann. „Dass wir diese Konstellation als Ende verstehen, bedeutet, dass wir an eine spezielle Variante denken, mit speziellen Regeln und speziellen Bedingungen.“
Wieder nickt Erik, ohne zu verstehen, was sein Gegenüber meint.
„Falls du darüber nachgrübelst, was wohl geschehen würde, wenn das Brett keine Begrenzung hätte, wenn man seitlich über die Ränder hinausschreiten und auf der anderen Seite des Bretts wieder hereinkommen könnte – dann lass dir gesagt sein, dass es eine solche Variante bereits gibt. Man nennt sie Zylinderschach, weil man sich das Brett als Zylinder denkt. Einen doppelten Zylinder kann man sich ebenfalls vorstellen, auch wenn er in unserem dreidimensionalen Raum unmöglich wäre. In diesem Fall könnte man das Brett nach allen vier Seiten hin verlassen.“
Der Junge sieht auf das Brett und versucht nachzuvollziehen, was der Fremde darlegt. Tatsächlich ist er bislang von den Schachregeln ausgegangen, die ihm sein Vater damals erklärt hat. Dass es Varianten davon gibt, ist ihm nicht bekannt gewesen. Doch wenn er nachdenkt, kommt ihm das sehr wahrscheinlich vor. Das Spiel hat auf seinem Weg hierher gewiss viele Länder und Zeiten durchlaufen. Wenn es, wie Lars sagt, früher als Orakel benutzt worden ist, ist es naheliegend, dass es eine Vielzahl abweichender Regeln gibt. Ist es das, was der Fremde sucht? Regeln, die dem schwarzen König das Überleben ermöglichen?
Erik erinnert sich, dass er diesen Gedanken gehabt hat, als ihn sein Vater abholte. In diesem Moment hat er begriffen, dass das Problem darin besteht, die Regeln zu verändern.
„Die Hierarchie der Figuren bestimmt den Verlauf des Schachspiels, das wir kennen“, fährt der Fremde fort. „Die Felder haben fast alle dieselbe Bedeutung. Aber es sind Varianten denkbar, in denen die Felder eine Hierarchie haben und die Figuren nicht. Was wie ein schwarzer König aussieht, ist möglicherweise nur eine Figur, die auf dem schwarzen Königsfeld steht. Zieht sie auf ein Nebenfeld, wird sie kein König mehr sein und ist damit vielleicht nicht mehr in Gefahr.“
Erik versucht sich ein Schachspiel vorzustellen, in dem die Felder die Bedeutungen der Figuren haben und die Figuren die Neutralität der Felder. Es gelingt ihm nur schwer, doch der Gedanke, dieses Spiel könnte noch faszinierender und tiefer sein als das Schachspiel, das er kennt, streift ihn kurz.
„Welche Lösung ist es, auf die du gekommen bist?“, fragt der Fremde.
„Ihr habt sie noch nicht erraten“, entgegnet der Junge.
Der Fremde kommt auf ihn zu. „Ich kenne tausend Lösungen. Es gibt Varianten, in denen jeder Spieler einen Zug mehr hat als sein Vorgänger. Der schwarze König könnte in dieser Phase fünfzig oder mehr Züge haben, falls das Spiel schon alt ist – genug, um ein ganzes Brett voller Feinde zu schlagen. Manchmal werden Bretter in bestimmte Zonen eingeteilt, die die
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