Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
einzelnen Figuren nicht verlassen können. Wir wissen nicht, ob in unserem Fall die beiden weißen Figuren die Grundlinie des Gegners überhaupt jemals erreichen können. Im indischen Würfelschach kommt sogar das Glück in Form eines Würfels ins Spiel.“
„Das Glück“, echot Erik. „Ist das keine unbefriedigende Lösung?“ Er hält diesen Einwand für scharfsinnig. Er kann sich nicht vorstellen, dass jemand, der ein Spiel wie Schach spielt, sich mit so einem launischen Etwas wie einem Würfel anfreunden kann.
Doch der Fremde überrascht ihn. „Eine Lösung, die aus einem Schachmatt hinausführt, ist niemals unbefriedigend, ganz gleich, wie sie aussieht. Was ist deine Lösung?“
„Ihr möchtet sie wirklich hören?“ Erik weiß noch immer nicht, was er sagen soll. Seine Stimme zittert ein wenig, und er hofft inständig, sein Gegenüber möge es nicht bemerken.
„Ich bin gespannt darauf. Du bist der erste in diesem Dorf, der bereit ist, mir zu assistieren.“
Der Körper des Jungen spannt sich. Wie wird der Mann reagieren, wenn auffliegt, dass er keineswegs gewillt oder in der Lage ist, ihm zu helfen? Erik beschließt, die Flucht nach vorne zu ergreifen, anstatt sich in die Enge treiben zu lassen. „Ich frage mich“, sagt er, „wie es möglich ist, dass Ihr tausend Lösungen zu kennen vorgebt und dennoch wie ein Besessener über dem Problem brütet und schwitzt. Mit Verlaub, Ihr seht nicht aus wie jemand, der sein Problem im Griff hat. Ihr erinnert mich an einige Leute, die vor jedem Glas Alkohol behaupten, jederzeit damit aufhören zu können, aber in Wirklichkeit machtlos dagegen sind. Warum, frage ich Euch, sitzt der schwarze König immer noch wie ein Büßer in seiner Ecke, ohne einen Schritt zu machen, wo Ihr doch tausend Lösungen zu seiner Befreiung kennen wollt? Was hält Euch noch hier, in dieser Stube, an diesem Brett?“
Während er sich reden hört, fällt Erik auf, dass er längst nicht mehr wie ein Junge spricht. Er schwadroniert wie ein geübter erwachsener Redner. Es verwirrt ihn, nicht zu klingen, wie er meint, klingen zu müssen. Das Zimmer flattert ein wenig und verliert an Farbe, doch das macht ihm nicht halb so viel aus wie das Gefühl, sich selbst zu verändern.
Der Fremde sagt nichts, kommt nur näher und näher, bis die beiden sich beinahe berühren. Erik erkennt mit Schrecken, dass der Mann nicht atmet. Und dann fällt ihm auf, dass das gleiche für ihn selbst gilt. Nein, das ist unmöglich! Er muss sich täuschen. Er täuscht sich. Bestimmt.
„Was willst du von mir?“, presst der Reisende hervor.
„Ich frage mich“, beginnt Erik noch einmal, „ob all diese Unfälle im Dorf sich nicht deshalb ereignen, weil Ihr auf diesem Brett nicht vom Fleck kommt. Ich meine, ich …“ Er holt tief Luft oder setzt zumindest dazu an, doch es ist ihm, als habe er keine Lungen, als sei er selbst nur ein Stück Holz ohne echtes Leben. Er schüttelt das Gefühl ab und spricht weiter: „Ich habe mir überlegt, dass Eure Lösung des Schachproblems darin bestehen könnte, uns alle zu töten und dann die Regeln so zu definieren, wie Ihr sie haben möchtet. Ein Weg aus diesem Spiel hinaus bedeutet Euch mehr als unser aller Leben. Ihr seid wahnsinnig. Dieses Brett ist Eure Welt, und unsere Welt ist für Euch nur ein Spiel, auf dem man beliebig viele Figuren schlagen kann. Habe ich Recht?“
Erik wartet die Antwort nicht ab. Er stürzt auf das Schachbrett zu und greift nach dem schwarzen König. Ohne Gegenwehr löst sich das Holzstück. Es ist leicht, so leicht, dass es kaum zu spüren ist. Mit der Figur in der Hand stößt er den Mann zur Seite und stürmt aus dem Zimmer und aus dem Haus.
7
Erik rennt.
Während er rennt, geht die Welt unter.
Das Haus, das er verlässt, ist das erste, das der Veränderung zum Opfer fällt. Es verliert sein charakteristisches Äußeres, eine Mischung aus Farbe, Form und Struktur, durch die man es von anderen Gebäuden hätte unterscheiden können, und schrumpft zu einem nichtssagenden, schiefen Block aus vergilbtem Papier zusammen. Ich habe geschrieben, es schrumpft, doch das hat nichts mit seiner Größe zu tun. Es ist, wie wenn man einen Aufsatz über die letzten Ferien schreibt, und der Deutschlehrer streicht später alles weg, was er für unwichtig und überflüssig hält. Die Ferien selbst sind noch genauso lang wie vorher, sie kann er nicht kürzen, aber sie sind schal und farblos geworden, zusammengeschnurrt zu einem nichtssagenden, hässlichen
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