Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
befremdend. Erik hat schon viele Sternbilder gesehen, aber solche sind ihm noch nie untergekommen. Es sind nicht die üblichen Menschen oder Tiere oder Wagen, die aussehen wie auf krakeligen Kinderzeichnungen. Diesmal sind es abstrakte Muster, dafür aber von enormer Schärfe und Klarheit.
Buchstaben.
Kreuzzeichen.
Viele einfache und komplexe Symbole, die Erik nicht deuten kann.
Dazu ein fünfzackiger Stern, ein Pentagramm.
„Was bedeutet das?“, fragt der Junge.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich diese Figuren aus den am weitesten entfernten Sternen zusammensetzen, die ich bisher erkennen kann. Jenseits dieser Sterne scheint es nichts mehr zu geben. Natürlich“, fügt er rasch hinzu, „muss das eine Täuschung sein. Sobald es mir gelingt, ein stärkeres Teleskop zu bauen, werde ich weitere Sterne finden.“
Trotzdem geht Erik der Gedanke nicht aus dem Kopf, die weitesten, die äußersten Sterne des Universums könnten diese merkwürdigen Symbole bilden. Dahinter mag es nur noch eine schwarze Wand geben – oder das reine Nichts.
Verstört macht er sich auf den Heimweg, und in dieser Nacht ist er es, der keinen Schlaf findet. Das Universum kommt ihm mit einem Mal eng vor, er kämpft mit einer Art kosmischen Klaustrophobie, und gleichzeitig lässt ihn die Vorstellung nicht los, der Fremde könne aus seiner kleinen, geliehenen Stube heraus mit seinem Schachbrett (seinem Fenster zum Schicksal) und den drei Figuren ihrer aller Leben bestimmen …
6
Es kostet Erik eine Menge Mut, am nächsten Tag den Fremden aufzusuchen. Doch die einzige Alternative macht ihm noch weitaus mehr Angst: Auf den Besuch zu verzichten, bedeutet, das Geheimnis des Fremden auf sich beruhen zu lassen und möglicherweise tatenlos zusehen zu müssen, wie sich weitere Unfälle ereignen.
Vor dem Haus, in das man den Schachspieler einquartiert hat, reden sich eine Handvoll Bürger die Köpfe heiß. Als der Zwölfjährige zwischen den wild argumentierenden und gestikulierenden Leuten hindurchgeht und das Haus betritt, sehen sie ihm verblüfft nach. „Der Junge ist hineingegangen“, bemerkt einer, und ein anderer ergänzt: „Und das, obwohl wir schon seit einer Stunde hier sind.“ „Schlechte Erziehung“, erwidert ein weiterer. „Er hätte sich hinten anstellen müssen.“ Der nächste gibt sich versöhnlich: „Warten wir eben ab, bis er wieder herauskommt.“ – „Bleibt uns etwas anderes übrig?“
Erik klopft an die geschlossene Tür. Als keine Reaktion erfolgt, drückt er sie nach innen auf und tritt ein. Der Fremde ist wieder auf dem Weg um den Tisch herum, und er scheint seinen Besucher nicht zu bemerken. Immer wieder verharrt er lange an der Stelle, an der er den schwarzen König direkt vor sich hat. Offenbar ist es ihm besonders wichtig, die Lage aus der Sicht dieser Figur zu sehen.
„Seid Ihr der Lösung näher gekommen?“, fragt Erik in die Stille hinein.
Es ist deutlich sichtbar, dass der Mann in der grünen Kutte den Blick von dem Brett zu nehmen versucht, aber es geht nicht. Unwillig verzieht er das Gesicht und unternimmt mehrere Anstrengungen – erfolglos. Er hat sich verändert, er hat seine Ruhe abgelegt und ist verbissener geworden. Der Junge stellt sich ihm gegenüber und betrachtet sein Gesicht. Die qualvolle Miene passt nicht ganz zu der Einschätzung, zu der Erik gekommen ist: dass der Fremde ein böser Zauberer sein könnte, der gekommen ist, um Schaden unter den Dorfbewohnern anzurichten. Es ist ihm nicht leicht gefallen, diesen Gedanken zu festigen, denn diesem Mann hat von Anfang an seine Sympathie und Neugier gehört, doch die Zusammenhänge, die Lars, der Sterngucker, zwischen den Sternen am Himmel und den Figuren auf dem Schachbrett hergestellt hat, haben ihm zu denken gegeben. Eine Nacht lang hat er sich hin und her gewälzt, bis er im frühen Morgengrauen ganz und gar bereit gewesen ist, das Übel in dem Fremden zu sehen. In seiner Vorstellung hat sich das kühle, neutrale Lächeln des Mannes in ein kaltes, bösartiges Grinsen verwandelt. Doch nun, da er ihn vor sich sieht, fühlt er sich überrumpelt von dem neuen, dem gequälten Äußeren, das er angenommen hat.
Vielleicht ist es das Schachspiel, das den Mann benutzt, nicht umgekehrt. Wie eine Droge, die Macht über den erlangt, der glaubt, Kontrolle über sie zu haben.
„Das Spiel ist dunkel“, sagt der Fremde. „Es wird dunkler, je länger man es ansieht.“
„Vielleicht solltet Ihr zwischendurch mal etwas anderes
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